Zweiter Teil: ideale und intendierte Schauspieler

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass ich im vorigen Beitrag vor allem die Beziehung zwischen idealen und real existierenden Schauspielern in den Mittelpunkt gerückt habe und dem intendierten Schauspieler eine eher stiefmütterliche Randbemerkung gegönnt habe.

Wenn ich jetzt schreibe, dass der intendierte Schauspieler im Kopf des Regisseurs und der ideale im Kopf des Dichters bestehen würde, mag dies, oberflächlich betrachtet, stimmen – jedoch möchte ich das Thema ein wenig vertiefen.

Der ideale Schauspieler lässt sich ausschließlich aus dem Text zurechtphantasieren, wo er einige Spuren hinterlassen hat. Wirklichen Könnern der schreibenden Kunst gelingt in ihren Texten die Suggestion hervorragenden Schauspiels. Das betrifft sowohl den Theater- als auch den filmischen Bereich. Autoren, die ihren Beruf weniger gut beherrschen, suggerieren in ihren Texten deutlich schlechtere Schauspielkunst. Ihr idealer Schauspieler ist ein Stümper.

Der von mir hoch verehrte Schauspieler Alan Rickman bekam einmal die Rolle des Sheriffs von Nottingham angeboten, welche er nach Durchsicht des Drehbuches ablehnte. Offenbar hatte er gespürt, dass der dort suggerierte ideale Schauspieler ein wirklich gutes Spiel erschwert, wenn nicht gar verhindert hätte. Erst die Zusage, er könne mit seiner Rolle machen was er wolle, bewegte ihr zur Annahme. Nun war damit aber das eigentliche Problem noch nicht gelöst. Rickman (und nicht der Regisseur!!!) mag im Kopf gehabt haben, wie er die Rolle spielen möchte, einen intendierten Schauspieler also – jedoch stand der ideale des Drehbuches dazu noch in lebhaftem Widerspruch. Der real existierende Schauspieler wusste genau, dass er Veränderungen in den geschriebenen Szenen und vor allem neue Dialoge benötigen würde, um seine Intentionen zum Leben zu erwecken. Heimlich bat er die Autoren Peter Barnes und Ruby Wax um Hilfe, und zu seinem Glück akzeptierte die Regie die so entstandenen Vorschläge. Jetzt entsprach der ideale Schauspieler dem intendierten. Rickmans Performance wurde ausgezeichnet, obwohl der Film insgesamt doch recht gemischte Kritiken erhielt.

An diesem etwas drastischen Beispiel sehen wir, dass es einer Realitätsverweigerung gleicht, den intendierten Schauspieler komplett unabhängig von idealen zu betrachten. Aber mehr davon im nächsten Beitrag…

Ideale, intendierte und real existierende Schauspieler

Im zweiten Teil meiner Schrift über Schauspielpädagogik hatte ich die Begriffe idealer Schauspieler, intendierter Schauspieler und real existierender Schauspieler eingeführt. Sie mögen auf den ersten Blick nur für Schauspielpädagogik und Schauspielmethodik relevant sein, verdienen aber auch aus dramaturgischer Sicht einige Aufmerksamkeit.

Sehe ich den dramatischen Text als eine Blaupause für spätere Aufführungen an, so müssen Schauspieler in diesen eine zentrale Bedeutung haben – verwandeln sie doch geschriebene Rollen in Figuren. Jeder Mensch, der einen dramatischen Text schreibt, hat nicht nur eine ideale Aufführung im Kopf, sondern selbstverständlich auch ideale Schauspieler, welche in dieser Aufführung agieren.

Es hab verschiedene Zeitalter, in denen Stücke zusammen mit den Schauspieltruppen entwickelt worden – der Dichter also von der Mitautorenschaft seiner spielenden Kollegen profitieren konnte. Für die Texte von Shakespeare besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass sie wenigstens teilweise kollektive Schöpfungen gewesen sind. Nicht zuletzt der beispiellose Wortschatz spricht dafür. Auch viele der Dialoge Molières enthalten Spuren von Improvisationen. Zuerst fiel mir ein solcher Zusammenhang auf, als ich das Textbuch zu einer Inszenierung von Frank Castorf in die Hände bekam. Dieser Regisseur ist bekannt für seine Eigenart, während der Proben die Erfindung neuer Dialoge durch die Schauspieler zu fordern. Als ich zum ersten Mal die Niederschrift einer solchen Arbeit zu lesen bekam, sprang mich die strukturelle Ähnlichkeit zu den Dialogen Molières an. In solchen Produktionsweisen haben sich offenbar die Eigenheiten der real existierenden Schauspieler als ideale Schauspieler in den Text eingebacken.

Vermutlich ähnlich verhält es sich mit Drehbüchern, welche von den Autoren selbst inszeniert werden. Sei es Fassbinder oder der bereits besprochene DANIEL DRUSKAT – die Textgestalt weist klare Bezüge zum Stil des Schauspiels auf. Dies scheint ebenfalls für ältere Filme oder viele amerikanische oder englische Produktionen zuzutreffen, in denen der Eindruck einer Kongruenz von idealem und real existierendem Schauspieler zu bestehen scheint. Offensichtlich hatten die Autoren der Drehbücher diejenige Schauspielkunst im Kopf, die es real gab (oder gibt).

Umso erstaunlicher sind Gespräche, die ich mit einigen deutschen Filmemachern hatte. Diese beschweren sich nicht selten über die real existierende Schauspielkunst in Deutschland. Die Figuren wären hölzern, die Kollegen würden nicht wie Menschen sondern wie Schauspieler sprechen. Offenbar haben die idealen Schauspieler der Autoren nichts mit der Schauspielkunst zu tun, die es tatsächlich in unserem schönen Lande gibt. Da sich auch Regisseure und Produzenten beschweren, ziehen diese sich aus den Büchern offenbar auch eine andere Art der Schauspielerei als die real existierende. Da sich der genannte Personenkreis zwischen dem Autor und dem Schauspieler befindet, nenne ich seine Vorstellung den intendierten Schauspieler. Hier ist es wie im Theater möglich, dass sie die idealen Schauspieler der Autoren nicht gut entschlüsseln können und so die real existierenden vor große Schwierigkeiten stellen.

Öfter aber kommt es vor, dass die Bücher dramaturgisch inkonsistent sind oder die Dialoge unlebendig formuliert wurden. Den Schauspielern wird es so erschwert, ihr künstlerisches Gewissen für die Erarbeitung einer lebendigen Figur zu nutzen. Nicht zu vergessen ist auch die, vom anglophonen Raum sehr verschiedene, Art der stimmlichen und sprecherischen Ausbildung. Ich habe dies ausführlich im dritten Band meiner Schrift zur Schauspielpädagogik beschrieben. Da es ein überwiegend schauspielerisches Problem ist, werde ich es in einem dramaturgischen Text nicht weiter erörtern, obwohl es sicher auch einen Teil der Frustration deutscher Filmemacher mit verursacht.

Was in Deutschland aber besonders fehlt, ist die Muße. Vielleicht wären die Autoren offener für dramaturgische Verbesserungen, wenn sie mehr Zeit hätten. Erfahrungsgemäß spielen auch Schauspieler besser, wenn sie mehr Zeit in die Vorbereitung investieren. Und hier haben wir kein dramaturgisches sondern ein ökonomisches Problem unserer real existierenden Film- und Theaterkunst.

Sommertheater und Dramaturgie

Endlich konnte ich wieder meiner Liebe zum Freilichttheater nachgehen! Zumindest als begeisterter und leider auch dramaturgisch denkender Zuschauer.

Auf einer wunderschön ausgestatteten Freilichtbühne folgte ich einer Geschichte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Ich sah nicht nur eine Kulisse, die bei Dunkelheit und künstlicher Beleuchtung sogar noch einen größeren Reiz entfaltete, die Figuren hatten sehr schöne und angemessene Kostüme, waren anspruchsvoll arrangiert – ihr Schauspiel war teilweise überraschend gut. Auch die Musik fügte sich auf hoher Qualität in diesen Kontext ein. Aktuelle und durchaus witzige Anspielungen über Wahlen im nächsten Jahr, schwedische Küche und Möbel und andere Bemerkungen aus dem Bereich des Kalauers mögen Geschmacksache sein – persönlich mag ich so was auch in historischen Stücken.

Ich fühlte mich also überwiegend gut unterhalten. Da ich unglücklicherweise auch Dramaturg bin, war ich zu Beginn einige Male gestört und im letzten Viertel des Stückes sogar regelrecht verärgert. Davon möchte ich berichten.

Dass einige Szenen ein Expositionsmassaker waren und man die Zuschauer auch anders hätte in die Geschichte einführen können, als durch geopolitische Uraniavorträge der Figuren, schenke ich mir. Der Inszenierung gelang es trotzdem, das Publikum in die Story zu ziehen. Die fehlende Eleganz der Exposition ist Kritik auf einem sehr hohen Niveau.

Störender empfand ich etwas, was ich Effekthascherei nennen muss. Ich liebe Freilichttheater und auch Stücke, die an die Mantel-und Degen-Filme angelehnt sind und dem Publikum mit Pferden, Gefechten und malerischen Volksszenen einen Schmaus bieten, den andere Theaterformen missen lassen. Sind solche wünschenswerten Effekte aber keine Varianten, eine Geschichte zu erzählen, sondern sollen einfach nur etwas Leben in die Bude bringen, stehe ich einem solchen Unterfangen kritischer gegenüber. Sind die Szenen so schwach, dass sie nicht von sich aus zu interessanten Konflikten oder Schlägereien führen können? Muss ich sehen, wie jemand – unabhängig von der Handlung – schräg über die Bühne reitet, um sein Pferd zum Hufschmied zu bringen. Dieser Reiter ist ein Mensch, der immer wieder mit dem Pferd das Geschehen beleben soll, ohne dass ich genau weiß, wer das ist und in welcher Beziehung er zur Handlung steht. Auch die Dialoge zu Pferde wurden immer wieder dadurch „belebt“, dass eine der Figuren – unmotiviert – während des Gespräches eine kleine Runde auf der Bühne ritt. Welche Botschaft sendet dies an den Partner? Das Gespräch mit dir interessiert mich nicht mehr so brennend, also reite ich mal ein wenig durch die Gegend und sehe mir die Häuser genauer an. Und weil ich ein Mikroport habe, kannst du ja auch so verstehen, was ich sage? Nun ist es nicht so, dass die Regie nicht gewusst hätte, wie man Beziehungen zwischen handelnden Figuren organisiert. Beim letzten Kampf zwischen der Heldin und dem Schurken nimmt das anwesende Volk interessiert und mitvollziehend Teil, so das ein Bild und eine Handlung entstehen, die den Fokus auf dieses erzählerisch wichtige Gefecht lenkt.

Geärgert habe ich mich aber wirklich erst im letzten Viertel. Der Held und die Heldin haben einen Komplott aufgedeckt, zu dessen Verhinderung unbedingt ein schwedischer General informiert werden muss. Und weil die Heldin zufällig auch die schwedische Kronprinzessin ist, gibt sie dem Helden ein Tuch mit, welches als Beweis seiner Glaubhaftigkeit dienen soll. Der Held selbst hat einen dringenden und nachvollziehbaren Grund für seinen Ritt (er will seine Stadt retten), und ich bin gespannt, ob der schwedische General rechtzeitig eintreffen wird. Unsere Heldin hingegen hält es für eine gute Idee, zwei Auftragsmördern in die Hände zu laufen, statt sich wie vereinbart in Sicherheit zu begeben. Den Grund für diese interessante Entscheidung erfahre ich nie! Wer kann sie retten? Natürlich unser Held, der seinen wichtigen Ritt unterbrach, weil ihn „so ein Gefühl“ beschlichen hatte. Danach ist von einer Information des Generals nicht mehr die Rede. So wichtig war das wohl doch nicht? Leiden die Hauptfiguren an ADHS oder – schlimmer noch – Demenz? Zum Glück kommt der besagte General von sich aus auf die Idee, in die Stadt zu reiten. Puh! Das ist ja gerade noch mal gut gegangen. Nun kann sich die Kronprinzessin, die sich lange als Page verkleidet hatte und endlich den Bösewicht (mit freundlicher Unterstützung des Helden) besiegen konnte, dem ganzen Heer und den Bürgern der Stadt zu erkennen geben. Inmitten der Bewunderung muss sie plötzlich weg, und ich frage mich warum. Drückt die Blase? Nein. Aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen hat sie ein Kleidchen mit in den Krieg genommen und möchte dieses jetzt unbedingt anziehen. Das ändert zwar nichts – aber wenigstens sieht sie jetzt mehr wie eine Prinzessin aus. Immerhin.

Durch solcherlei Absurditäten wurde ich im letzten Viertel so oft aus der Story gerissen, dass ich die Lust verlor, dieser weiter zu folgen. Ja – das Ganze war trotzdem unterhaltsam und sehenswert. Mich stört viel mehr, dass die Inszenierung durch solcherlei dramaturgische Bequemlichkeiten unter ihren Möglichkeiten geblieben ist. Mit größerer erzählerischer Sorgfalt wäre der Abend nicht nur zwanzig Minuten kürzer, sondern nahezu perfekt gewesen. Man verzeihe mir, dass ich über diese verpassten Gelegenheiten als Dramaturg und Künstler traurig bin.

Vers, ideale und intendierte Aufführung

Bleiben wir noch ein wenig beim Monolog der Helena. Alles was ich über das reflektierte Mitteilen innerer Prozesse im Vorigen geschrieben habe, trifft streng genommen nur auf diejenigen Teile des Monologes zu, dessen Verse eine hohe Regelmäßigkeit aufweisen. Diese Regelmäßigkeit vermittelt eine gewisse Reflektiertheit, welche meine bisherigen Gedanken zur idealen Aufführung des Monologes unterstreicht. Die Verse haben eine Leichtigkeit und Eleganz und erschweren dadurch die Vorstellung der inneren Aufgewühltheit oder der Unfähigkeit, vernünftig zu denken. Nehme ich diese Regelmäßigkeit als Grundrauschen des Monologes an, so könnten mir rhythmische Abweichungen einen Hinweis auf eine mögliche ideale Aufführung geben.

Regelmäßigkeit erleben wir in Versen wie: „And therefore is wing’d Cupid painted blind.“ Diese Gedanken scheinen Helena so klar und bar jeden Zweifels, dass sie wie Wasser von ihren Lippen perlen können. Der bereits zitierte Kalauer „How happy some o’er other some can be!“ impliziert beim Sprechen eine kleine Pause zwischen „o’er“ und „other“. Diese unterstreicht nicht nur den Wortwitz, welcher aus der verschiedenen Anordnung der Worte „some“ und „other“ entsteht – das Wortspiel selbst könnte auch als vorübergehende leichte geistige Verwirrung der Sprecherin gespielt werden.

Die Durchbrechung der Regelmäßigkeit im Rhythmus der Verse kann unsere Phantasie anregen. Sie ist eine der Spuren, welche eine ideale Aufführung hinterlassen hat. Wir können vermuten, dass Shakespeares Schauspieler die glatte Oberfläche wohl formulierter Gedanken auf diese Weise durchbrochen haben – so wie kleine Wellen in einem stillen Gewässer etwas vermuten lassen, das ein springender Fisch oder ein Kiesel sein könnte. Ich bin leider nicht genug in die Feinheiten Elisabethanischer Schauspielkunst eingedrungen, um mich, metaphorisch gesprochen, für Fisch oder Kiesel entscheiden zu können. Ich sehe aber das Potenzial dieser kleinen metaphorischen Wellen für eine intendierte Aufführung.

Hier ein Beispiel:
„Through Athens I am thought as fair as she.
But what of that? Demetrius thinks not so;
He will not know what all but he do know;“

Im ersten dieser Verse finde ich eine kleine Kräuselung im Rhythmus: „Through Athens“ sticht hervor, bevor sich der Vers wieder der Regelmäßigkeit bequemt. In meinem (deutschen) Kopf höre ich: „Ganz Athen (!!!!!!!!) weiß, dass ich genauso schön wie sie bin. Spontan fallen mir dazu zwei schauspielerische Gestaltungsmöglichkeiten ein. Die erste ist eine rhetorische Hervorhebung, welche für die Zuschauer betont, dass eben Ganz Athen von der Schönheit Helenas begeistert ist. Die zweite gibt der Schauspielerin eine kurze Gelegenheit auszurasten, bevor sie sich in der Regelmäßigkeit ihrer Worte wieder einkriegt. Fisch oder Kiesel eben können eine solche Kräuselung verursachen. Die Ruhe im Rhythmus aber ist von kurzer Dauer, denn Helena fährt fort:
„And as he errs, doting on Hermia’s eyes,“
Das Komma trennt im Vers zwei Hebungen, was das Wort „doting“ hervorhebt und dadurch eben einen Schwerpunkt darauf legt, dass Demetrius vernarrt in Hermia ist. Auch hier bieten sich der Schauspielerin die Möglichkeit, ihre vernünftigen Darlegungen mit einer emotionalen Spitze zu durchbrechen.

Wahrscheinlich ist es etwas viel von einem Dramaturgen verlangt, das ganze Stück aus diese Weise aufzubrechen und eine Gebrauchsanweisung für die Verssprache zu verfassen. Wenn sich Schauspieler darauf einlassen, selbst einmal zu forschen, wird sich ihnen ein Meer von Gestaltungsmöglichkeiten erschließen. Dramaturgen können aber mit einer gewissen Sorgfalt auf die Übersetzung achten – also diejenige, welche der intendierten Aufführung der Regie am besten ziemt.

Betrachten wir kurz die besprochenen Verse in Schlegels Übersetzung:
„Wie kann das Glück so wunderlich doch schalten!
Ich werde für so schön wie sie gehalten.
Was hilft es mir, solang’ Demetrius
Nicht wissen will, was jeder wissen muß?
Wie Wahn ihn zwingt, an Hermias Blick zu hangen,“
Beim lauten Sprechen fällt die konsequente Regelmäßigkeit im Rhythmus auf. Schlegels ideale Aufführung unterscheidet sich deutlich von der Shakespeares und zwingt die Schauspielerin viel mehr in die Bahnen der Vernunft. Kein Wortspiel und kein Kräuseln der glatten Oberfläche laden uns ein, nach Fischen oder Kieseln zu suchen…

Helenas Monolog und die intendierte Aufführung

Will ich die ideale Aufführung eines Theaterstückes aus längst vergangenen Zeiten herausfinden, so ist es eine gute Idee, die Aufführungskonventionen jener Zeiten vor mein geistiges Auge zu stellen und so einen gewissen Kontext für die sichtbaren Texte zu schaffen.

Zu Shakespeares Zeiten, das ist recht sicher anzunehmen, dürfte die Idee einer vierten Wand im Theater keine Rolle gespielt haben. Figuren kommunizierten nicht nur miteinander, sondern auch mit dem Publikum. Monologe spielten eine besondere erzählerische Rolle: sie informierten das Publikum nicht nur auf eine sehr effektive Art und Weise – die sprechende Figur konnte die Zuschauer zudem auf ihre Lage und ihre Motivationen einstimmen. Dem Geschmack der Zeit entsprach es außerdem, über irrationale emotionale Prozesse durch den Filter der Vernunft zu sprechen. Solche Prozesse wurden in einem Monolog nicht gezeigt. Sie wurden reflektiert vorgetragen. An dem Schnittpunkt zwischen Emotion und Vernunft entsteht bei Shakespeare die ihm eigene Poesie. Auch in vermutlich höchster Erregung, in Momenten komplett irrationaler Entscheidungen können die Figuren mit gebildeten Metaphern brillieren und haben genug geistige Kapazität für Kalauer. Helenas Monolog beginnt mit einem solchen: „How happy some o’er other some can be!“

Und Helenas Verfassung ist im Moment ihres ersten Monologs unbedingt irrational zu nennen. Anstatt Hermia und Lysander fliehen zu lassen – will sie petzen! Nicht im Ansatz kommt ihr der Gedanke, dass sich ihre Chancen bei Demetrius erhöhen könnten, wenn Hermia einmal aus der Stadt ist. Dieser Umstand ist bemerkenswert, weil Helena eben diesen Gedanken kurz vorher aus Hermias Mund gehört hat. Als Zuschauer muss ich mich sehr darüber wundern. Es besteht eine gewisse erzählerische Notwendigkeit, mir zu erklären, dass die Liebe keine vernünftigen Entscheidungen trifft. Den Konventionen der Zeit entsprechend, zeigt mir Helena nicht ihren desolaten Zustand, sondern fasst ihn in wohlgesetzte Worte – so wie es Personen tun, die durchaus Herr ihrer Sinne sind.

Mit diesem Widerspruch wird sich eine moderne Inszenierung auseinandersetzen müssen. Die intendierte Aufführung könnte die Unvernunft von Helenas Entscheidung schlicht nicht zur Kenntnis nehmen und hoffen, dass sich das Publikum nicht daran stört. Sie könnte sich aber auch dafür entscheiden, die Figur der Helena in einem emotionalen Ausnahmezustand zu präsentieren, was die Schauspielerin wiederum vor Probleme mit der Sprache stellen könnte.

Oder aber man zeichnet die Figur der Helena als derart berechnend und bösartig, dass sie Hermias Glück um jeden Preis zerstören möchte. Ihr Monolog wäre dann eine Art Reinwaschung in dem Sinne: „Ich kann ja gar nichts dafür.“

Ohne Änderungen am Text (welche ja immer möglich sind) stellt die ideale Aufführung die intendierte Aufführung vor Herausforderungen, die vermutlich interessantere Lösungen zur Folge haben als die Ignoranz dessen, was die Textgestalt impliziert.

Intendierte und ideale Aufführung

Auch wenn es, wie im letzten Beitrag beschrieben, mannigfaltige Möglichkeiten für Regisseure gibt, die sichtbaren Teile eines Theaterstückes miteinander zu verknüpfen und so ihre ganz eigene – und vielleicht komplett neue – Geschichte zu erzählen, warne ich vor gedankenloser Beliebigkeit. Jeder Theatertext enthält Spuren einer idealen Aufführung. Was immer meiner Phantasie entspringt, sollte zu diesen Spuren passen, mit ihnen konsistent sein – es sei denn, ich streiche diejenigen Texte, welche Spuren enthalten, die meine eigene Geschichte stören. Das ist eine durchaus legitime Lösung. Als Dramaturg war ich oft „gefürchtet“ wegen meiner rabiaten Strichvorschläge. Ich wollte damit der Regie möglichst große Freiräume für ihre eigenen Geschichten schaffen.

Plane ich eine Inszenierung, die auf einem vorhandenen Theatertext basiert, so habe ich als Regisseur meine eigene Aufführung im Kopf. Im Begriffsverwirrungen zu vermeiden, nenne ich diese die intendierte Aufführung. Diese kann sich deutlich von der idealen Aufführung im Kopfe des Dichters unterscheiden, auch ohne rabiate Striche erforderlich zu machen. Nur sollten in diesem Fall die neuen Verknüpfungen, welche die intendierte Aufführung erschafft, zu den Spuren passen, die eine ideale Aufführung in den Texten hinterlassen hat.

Das eben Geschriebene, so werden Viele argumentieren, zeugt von einer gewissen Kleingeistigkeit der Dramaturgen. Was ist mit der künstlerischen Freiheit und der der Interpretationen? Nun, diese sehe ich durch meine Forderung nicht in Gefahr. Ich habe nichts dagegen, den Text so zu streichen oder verändern, dass er zur intendierten Aufführung passt. Ich unterstütze im Übrigen die Möglichkeit, ein Stück so zu inszenieren, dass sich Inszenierung und gesprochener Text aneinander reiben und sich dieser Widerspruch auch deutlich manifestiert. Es sollte nur eine künstlerische Absicht dahinter stecken und keine Gedankenlosigkeit. Als Regisseur, der ein Stück inszeniert, verhalte ich mich zu Mythen. Mythen, also sinnstiftende Geschichten, entstehen durch Verknüpfungen. Ich kann auch durch meine inszenatorischen Verknüpfungen vorhandene Mythen in Frage stellen und damit den Sinn, den sie stiften sollen, öffentlich zur Diskussion stellen. Das Theater der Postmoderne hat diesen Weg oft gewählt. Diese beabsichtigte Diskussion ist der Sinn meiner intendierten Aufführung. Als Dramaturg kritisiere ich weder solche Inszenierungen oder solche, die durch kluge Striche Raum für neue Mythen (oder Verknüpfungen) geschaffen haben.

Verknüpfungen erschaffen erst den Sinn des Erzählten. Passen nun Teile einer Aufführung nicht zum Sinn, ohne dass dahinter eine künstlerische Absicht erkennbar ist, so wird dieser spezielle Sinn an ebendiesen Teilen zerrissen. Das Kunstwerk wirkt unorganisch und nicht gekonnt. Das künstlerische Gewissen (siehe Beitrag dazu) der arbeitenden Künstler wird ebenso gestört wie das der Zuschauer – ein inspirierender Flow bleibt aus, ohne dass dies beabsichtigt wurde. Als Dramaturg möchte ich gern mein Team davor bewahren.

Um deutlich zu machen, was ich damit meine, greife ich im nächsten Beitrag auf ein Beispiel zurück, das ich im zweiten Band meiner Schrift über Schauspielpädagogik benutzt habe: den Monolog der Helena aus dem SOMMERNACHTSTRAUM.

Ich gehe an dieser Stelle nicht näher auf den Umstand ein, dass dieser Monolog von Shakespeare nicht für eine Frau sondern für einen Transvestiten geschrieben worden war und alle Implikationen, die das für die Aufführung gehabt haben mag. Dieses Thema betrifft zwar auch Spuren im Text, passt aber besser zu Begriffen wie idealer Schauspieler, intendierter Schauspieler und real existierender Schauspieler, an die ich mich in dem bereits erwähnten Buch angenähert habe.

Ich bitte meine Leser, diesen Cliffhanger zum nächsten Beitrag gnädig aufzunehmen.

Ideale Aufführung

Dramaturgen werden aus verschiedenen Gründen gehasst. Einer davon ist die Idee, sie würden die Interessen der Dichter gegen die Theaterkünstler verteidigen wollen und erwarten, dass dem geschriebenen Wort die Treue gehalten wird. Ich weiß nicht, wie viele solcher Kollegen es gibt. Persönlich kenne ich keinen.

Ich schreibe diese Einleitung hauptsächlich deshalb, weil ich ein gewisses Feld des Misstrauens erwarte, wenn ich von einer idealen Aufführung spreche und sie definiere als diejenige Aufführung, die der Dichter beim Dichten im Kopf gehabt haben mag. Das Wörtchen mag ist in diesem Zusammenhang deutlich hervorzuheben, denn niemand kann die Gedanken fremder Menschen so lesen, dass er die Feinheiten ihrer schöpferischen Prozesse getreu reproduzieren könnte. Jedoch ist es für mich unbestritten, dass die Vorstellungen der Autoren Spuren in ihren Texten hinterlassen. Eine gute dramaturgische Analyse wird diesen Spuren folgen. Je mehr ich über Aufführungspraxis und Rezeptionsgewohnheiten der Entstehungszeit eines bestimmten Werkes weiß, desto besser kann ich das ergänzen, was nicht explizit niedergeschrieben ist. Die Worte, die ich lese, sind der sichtbare Teil, der durch unsichtbare Verknüpfungen im Kopf des Autors zusammengehalten wird.

Spreche ich als Dramaturg von idealen Aufführungen, so sind diese meist Hypothesen – zumindest in den traditionellen Kontexten der Theater werde ich die Autoren selten präzise nach ihren Vorstellungen befragen können. Dies ist natürlich bei kollektiven Stückentwicklungen etwas Anderes, weil diese durch die Autoren selbst zur Aufführung gebracht werden. Dasselbe lässt sich über Drehbücher sagen, welche von den Autoren selbst realisiert werden. DANIEL DRUSKAT – von Lothar Bellag nach einem Roman geschrieben und selbst inszeniert – mag als Beispiel dafür gelten. In einem vergangenen Beitrag hatte ich einige der Texte als deklamatorisch beschrieben, in dieser Eigenschaft einer feudalen Theatertradition folgend. Die konsequenteste Umsetzung eines solchen deklamatorischen Textes dürfte der Monolog des Max Stephan über den Genuss im Sozialismus sein. Wie ein Herrscher schreitet Manfred Krug dabei die Freitreppe eines Schlosses hinab. Auch in den Filmen des Rainer Werner Fassbinder, dem Werk des Sergio Leone oder des Quentin Tarantino werden die Ideen der Autoren plastisch sichtbar. Die ideale Aufführung dürfte in weiten Teilen dem entsprechen, was wir sehen.

Ganz anders hingegen ist das bei Autoren, deren Stücke seit langem zum Repertoire unserer Theater gehören. Nicht nur sind sie meist schon eine Weile tot – die gesellschaftlichen Bedingungen, die Theaterkonventionen und Rezeptionsgewohnheiten ihrer Zeit liegen auch im Dunkel der Geschichte. So muss die ideale Aufführung immer eine Hypothese bleiben. Es ist dies eine Hypothese, welche vom Sichtbaren auf das Unsichtbare schließt.

Im zweiten Band meiner Schrift über die Schauspielpädagogik hatte ich einige Beispiele dazu betrachtet. Eines davon, Tschechows DIE MÖWE, möchte ich an dieser Stelle noch einmal in den Fokus stellen. Dort hatte ich die Standesunterschiede zwischen den Figuren zum Ausgang genommen, um ihre Beziehungen zueinander in einen historischen Kontext zu stellen und so dem Sichtbaren (dem Text) über die Verknüpfung zu den sozialen Positionen einen besonderen Sinn zu verleihen. Das Leiden Kostjas stand so im Kontext seiner Herkunft: mütterlicherseits höchster russischer Adel, väterlicherseits ukrainischer Kleinbürger. Er kämpft sowohl um die Liebe seiner adligen Mutter als auch um die Liebe der Tochter eines russischen Gutsbesitzers. Die Avancen von Mascha verschmäht er. Ihre Familie gehört der tatarischen Oberschicht an, kann es jedoch unter Russen nur zu Hausangestellten bringen. Ein romantisches Band zu Kostja würde sie zumindest in die Nähe einer Position bringen, welche ihr zustehen sollte. Die Ehe mit einem Lehrer wirkt in diesem Kontext wie ein sozialer Abstieg – die ständigen Nörgeleien Maschas ergeben durch diese Verknüpfung einen Sinn. Es ist wahrscheinlich, dass ein solcher Kontext Teil der idealen Aufführung in Tschechows Kopf gewesen sein mag. Aus seinem Werk lässt sich schließen, dass er das Beharren auf Standesunterschieden in seiner Zeit absolut lächerlich fand. Es würde auch erklären, warum er ein Stück als Komödie bezeichnet hat, welches mit einer schizophrenen Nina und einem toten Kostja endet.

Auch wenn ich mir als Dramaturg mit der Extraktion einer idealen Aufführung die größte Mühe gebe, ist das Ergebnis meiner Arbeit nicht die einzige Möglichkeit, das Sichtbare miteinander zu verknüpfen. Bei einem Kunstwerk, welches den Augenblick überdauert, liegt, wie bei einem Eisberg, das meiste in unsichtbaren Regionen und lässt so eine Menge Freiraum für die Phantasie nachfolgender Generationen. Genau diese unsichtbaren Anteile sorgen dafür, dass uns heute ein Werk noch anspricht, dessen Konflikte zu seiner Entstehungszeit für uns nicht mehr relevant sind. Ich möchte die Wirkung eines solchen Kunstwerkes nicht mit einem Rorschachtest vergleichen, weil ich sie nicht für derart beliebig halte. Aber trotzdem ergeben sich aus dem Sichtbaren der Textgestalt mehr Varianten der Verknüpfung, als es unsere „Schulweisheit träumen lässt“. Letztens sah ich eine Studentenarbeit der MÖWE, welche aus der Ehe Maschas und Medwedjenkos eine bodenständige, liebevolle Beziehung gezaubert hat, welche trotz aller Streitereien (vielleicht auch gerade wegen dieser) einen wohltuenden Kontrast zur gekünstelten Welt der Anderen bildete. Dazu musste nicht in den (sichtbaren) Text eingegriffen werden. Vielmehr schaffte die Inszenierung eine solche Verknüpfung.

Das künstlerische Gewissen

In meinen Büchern über Schauspielpädagogik bin ich auf das künstlerische Gewissen zu sprechen gekommen, einen Begriff, den ich möglicherweise erfunden habe und der in meinem Denken einen vornehmen Platz einnimmt.

Meinen Schauspielstudenten habe ich dieses „Gewissen“ immer so demonstriert: Nachdem ich mir pantomimisch eine viel zu weite Hose übergezogen hatte, wollte ich damit, ohne sie zuzuknöpfen oder mit Gürtel bzw. Hosenträgern zu befestigen, loslaufen. In meinem Kopf rutschte die Hose sofort bis an die Knöchel. Dies habe ich nicht willentlich erzeugt, um besonders realistisch zu sein. Mein Unbewusstes hat dies assoziiert – ohne aktives Zutun meinerseits. Mein künstlerisches Ich neigt dazu, aus allen möglichen Anregungen Geschichten zu spinnen. Die heruntergerutschte Hose ist da kein Einzelfall. Meine Geschichten können durchaus absurde Züge annehmen. Neulich unterhielten wir uns über den Verkauf von Vogelspinnen. Dabei erfuhr ich, dass diese mit Paketen verschickt werden, nachdem sie zu diesem Zwecke unterkühlt worden sind. In meinen Kopf drängte sich das Bild eines Paketes, aus dem Spinnenbeine herausragen, welche Paket und Spinne selbständig zum Empfänger bringen. Als ich dies einem Kollegen erzählte, fand er es genauso lustig wie ich, so dass wir lachend einige Minuten lang diese kleine Geschichte ausmalten. Danach hörten wir abrupt auf, weil das Thema nicht mehr Spaß hergab. Unser künstlerisches Gewissen wusste offenbar, wann es genug war. Aber zurück zur Hose, die mein künstlerisches Ich bereits an meine Knöchel befördert hatte. Da waren sie nun einmal, so dass mein künstlerisches Gewissen mich daran hinderte loszulaufen. Wäre ich in diesem Moment trotzdem losgelaufen, hätte ich mich aus dem Strom künstlerischer Assoziationen gerissen, ein Flow wäre verhindert worden, und meine Aktion hätte einen unorganischen, gezwungenen Eindruck hinterlassen. Anstatt als Künstler zu agieren, hätte ich mich zur Marionette einer Regieanweisung gemacht. Ein erneutes Hochziehen der Hose und ein imaginierter Gürtel befreiten mich aus diesem Dilemma.

Ich habe für diese Art zu denken von Kollegen schon eine Menge Kritik bekommen. Manchmal müsse man es einfach behaupten oder dürfe sich nicht von naturalistischen Konzepten in seiner Schöpferkraft begrenzen lassen. Diese Kritiken haben mich auch oft verunsichert, bis ich merkte, dass der fehlende Gürtel nichts mit naturalistischen Absichten und alles mit der Art und Weise, wie meine Phantasie arbeitet, zu tun hat.

Meine Phantasie macht etwas, was jeder Mensch von sich kennt: sie verknüpft Sichtbares miteinander und überbrückt damit unsichtbare Lücken. Wir können Wörter erkennen, auch wenn einige ihrer Buchstaben durch Zahlen ersetzt worden sind. Wir erkennen Bilder auch dann, wenn sie nicht vollständig gemalt worden sind. Diese Verknüpfungen sind Leistungen der Phantasie von Künstlern und Rezipienten. In ihnen begegnen sich beide, auch dann, wenn die Produkte ihrer Phantasie in ihren Köpfen ganz unterschiedliche Bilder darstellen können. Ist das Sichtbare im Kopf des Künstlers organisch miteinander verknüpft, erhöht dies die Chance einer organischen Verknüpfung im Kopf des Rezipienten.

Aristoteles nannte – wie bereits bemerkt – die Fabel (Mythos) eine Verknüpfung von Begebenheiten. Das künstlerische Gewissen spielt hierbei für Autoren eine ebenso große Rolle wie für Schauspieler. Genau so, wie ich akzeptieren muss, dass ich einen imaginierten Gürtel benötige, um die hochgezogene Hose mit der Aktion des Loslaufens zu verknüpfen, sollten Autoren akzeptieren, was sie benötigen, um Begebenheiten zu einer Geschichte zu verknüpfen. Dazu müssen sie auf die Stimme ihres künstlerischen Gewissens hören.

Wir treten in ein neues Mittelalter ein

Neue Technologien haben die Unart, gesellschaftliche Veränderungen zu provozieren, die keiner erwartet hat. Wir kennen die Auswirkungen des Buchdrucks, der Mechanisierung oder der Massenproduktion. Im Augenblick sehen wir uns mit der Digitalisierung konfrontiert, deren Konsequenzen wir unmöglich prophezeien können. Was allerdings zu leisten ist, ist eine Beschreibung der Veränderungen, welche bereits stattgefunden haben.

Als Neil Postman uns davor warnte, uns zu Tode zu amüsieren, hatte Apple gerade den MAC vorgestellt, der als Blaupause moderner PC’s angesehen werden kann. Zu diesem Zeitpunkt war eine solche Entwicklung noch marginal, so dass das Fernsehen als Hauptfeind angesehen wurde. „Fernsehen wurde nicht für Idioten erschaffen – es erzeugt sie.“ Im Mittelalter benutzte man den Begriff idiotae, um die ungebildete, unwissende Mehrheit der Bevölkerung zu kategorisieren, die weder lesen noch schreiben konnte. Die Wissenschaft nennt diese Menschen auch „illiterat“, weil sie am gesellschaftlichen Diskurs nicht über die Schriftsprache teilnahm. Die idiotae standen als Gruppe im Gegensatz zu den docti, den Gelehrten, den Schriftkundigen, den Literaten.

Die fortschreitende Digitalisierung hat die vom Fernsehen begonnene Entwicklung zu einem neuen Höhepunkt getrieben. Sie hat eine neue Schicht von idiotae erschaffen, welche illiterat sind, obwohl sie lesen und schreiben können. Illiterat bedeutet in diesem Fall, dass sie sich nicht vom geschriebenen Wort inspirieren lassen, sondern Informationen und Gedanken aus Dokumentationen, gesprochenen Kommentaren, Memes, Tweets und ähnlichem ziehen. Die docti unserer Zeit können nicht nur lesen und schreiben, sondern benutzen diese Fähigkeiten auch, um am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen.

Äußerte ich diese Gedanken in einer Diskussion, würden mich Menschen fragen: „Was ist daran so schlimm? Warum muss man denn Bücher lesen?“

Niemand muss! Aber im Unterschied zu anderen Formen des Austausches bestimmt das Lesen nicht das Tempo der Rezeption. Ich lese in meinem eigenen Tempo, in der Geschwindigkeit also, in der ich dem Text folgen kann. Jederzeit habe ich die Möglichkeit, vom Buch aufzuschauen, zu assoziieren, über das Gelesene nachzudenken. Das erhöht meine Fähigkeit, auch komplexeren Texten zu folgen. Zu einem beliebigen Moment setze ich meine Lektüre fort. Nehme ich dasselbe audiovisuell wahr, muss ich dem Tempo der Darbietung folgen. Diese ist in der Regel auch so organisiert, dass ich möglichst nicht das Bedürfnis nach einer Pause verspüre. Der Unterschied in der Art der Rezeption ist wesentlich! Beim Lesen kann ich komplexere Gedanken verstehen und habe es auch leichter, zum Text meine eigene Meinung zu bilden. Das Lesen, so möchte ich behaupten, bildet mich tiefer und komplexer, weil es mir ein besseres Verständnis und kritisches Denken ermöglicht. In meinem eigenen Tempo der Rezeption komme ich einfach besser „dazwischen“ – muss ich dem Dargebotenen in Echtzeit folgen, bin ich ihm deutlich stärker ausgeliefert. Auch das in Echtzeit Dargebotene muss seine Struktur so vereinfachen, dass der Zuschauer in Echtzeit folgen kann. Für Regisseure und Dramaturgen ist dies übrigens eine große Herausforderung beim Inszenieren anspruchsvoller Stücke.

Dass sich der Medienkonsum vom überwiegend Literarischen zum überwiegend Audiovisuellen verschoben hat, erinnert mich an einen Satz, welcher für mich einen wesentlichen Faktor mittelalterlicher Kultur beschreibt: ‌ Pictura est laicorum literatura – „Das Bild ist die Literatur der Laien.“ Die Abwendung vom Literarischen hat eine wachsende Subkultur illiterater Menschen geschaffen, die zwar lesen und schreiben können – ihre Bildung aber nicht aus Schriften beziehen. Durch die Eigenart der Rezeption in Echtzeit verlieren sie gewissermaßen die Kontrolle über ihr eigenes Denken. Ihr Gehirn wird nicht mehr auf kritisches Hinterfragen oder das Verstehen komplexer Zusammenhänge trainiert, denn dazu braucht es die Muße und Selbstbestimmung des Lesers. Das Medium ist ein großer Teil der Botschaft.

Auch im Mittelalter standen die Geistlichen als Vertreter der Herrschenden vor dem Problem, ihrer illiteraten Zuhörerschaft die herrschenden christlichen Ideen zu vermitteln. Dabei haben sie nicht die Ideen eines Thomas von Aquino diskutieren können, dessen Gedanken auch dann zu komplex gewesen wären, wenn man sie in die jeweilige Volkssprache übersetzt hätte. Dem Volke mussten einfache Botschaften, Geschichten und Bilder geboten werden – Dinge, welche auch ungebildete Menschen begreifen konnten.

„Etwa 17 Millionen Erwachsene in Deutschland haben Probleme damit, komplexe Texte zu verstehen. Damit auch sie sich über aktuelle Themen informieren können, strahlt die tagesschau ab sofort Fernsehnachrichten in Einfacher Sprache aus.“ So lesen wir es auf der offiziellen Webseite (Stand 12.06.2024). Wer diese Beispiele Einfacher Sprache hört, wird auch dann erschüttert sein, wenn er kein Akademiker ist. Es werden primitive Aussagen vorgestellt, die keinen Hinweis auf Zusammenhänge enthalten und so keine Hilfe zum Verständnis aktueller Geschehnisse geben können. Ich glaube, dass die Geschichten, welche im Mittelalter den idiotae erzählt wurden, die Bilder, die man ihnen präsentierte, anspruchsvoller waren als die Einfache Sprache.

Ein Jahr lang habe ich an einer Brandenburgischen Oberschule unterrichtet. Der größte Teil meiner Schüler hatte eine profunde Abneigung gegen Lesen und Schreiben. Selbst ein kurzer Abschnitt in einem Lehrbuch, das für ihre Altersklasse geschrieben worden war, selbst die Inhalte des Rahmenlehrplans stellten eine wesentliche Überforderung für den größten Teil dieser Schüler dar. Was ich von der Digitalisierung im Lehrbetrieb soweit gesehen habe, ist eher geeignet, dem Primitivismus Vorschub zu leisten und die illiterate Konditionierung fortzusetzen. Man könnte überspitzt formulieren, dass die Gruppe der idiotae täglich Zuwachs bekommt und die docti sich nicht mit der Hebung der allgemeinen Bildung befassen, sondern damit, den idiotae intellektuell entgegenzukommen und so ihre Chancen auf Verständnis und kritisches Denken zu minimieren.

Dies, liebe Leser, ist eine kulturelle Entwicklung, die mich sehr an das Mittelalter erinnert.

Daniel Druskat (2): Kunst, Kultur und Ideologie

Ideologie lässt sich ohne größere geistige Anstrengung erkennen, was sie für Meinungsregulatoren jeglicher Couleur besonders attraktiv erscheinen lässt. Es geht in ihr um Sagbares und Nicht-Sagbares. Kultur ist da schon deutlich komplexer, denn in ihr geht es weniger um Worte als um Verhaltensweisen. Ob wir einer Frau die Tür aufhalten oder nicht, ob wir sie nötigen, sich züchtig zu kleiden oder ihre Freizügigkeit respektieren, ob wir mit Besteck oder mit den Händen essen, welches Besteck wir wählen, ob wir Trinksitten haben oder nicht, wie wir zu Recht und Gerechtigkeit stehen, ob wir lieber verzeihen oder rächen – dies alles sind Elemente einer Kultur, die auf mannigfaltige Weise verknüpft sind. Im Unterschied zu ideologischen Positionen lässt sich ein kulturelles Fundament auf Nachfrage nicht mit wenigen klaren Sätzen beschreiben.

Unsere Kunst steht mit der Kultur in lebhaftester Beziehung. Eines ihrer wichtigsten Instrumente ist der Umgang mit Mythen. Mythos ist das, was wir in den Schriften des Aristoteles häufig als Fabel übersetzt finden und heute vielleicht eher als Story oder Plot bezeichnen würden. Das Wort Mythos ist mir aber näher, weil es die sinnstiftende Eigenart von Geschichten besser zum Ausdruck bringt. Wenn Aristoteles den Mythos als „Verknüpfung von Begebenheiten“ definiert, können wir unterstellen, dass die Begebenheiten erst durch ihre Verknüpfung einen Sinn bekommen. Insofern gibt es Geschichten, welche wir als eine Art Gründungsmythen bestimmter kultureller Elemente betrachten können. So sind die Evangelien Geschichten, die uns zu christlichen Werten und christlichem Verhalten führen – so ist die Legende vom Müller von Sanssouci als eine Art Beginn unseres modernen Verständnisses vom Rechtsstaat zu werten. Und genauso, wie die Kunst Mythen schafft oder bestätigt, kann sie diese auch dekonstruieren oder gar vernichten. Beinahe wichtiger als die Beschreibung verhandelter Gedanken scheint mir daher in den Werken der dramatischen Kunst die Betrachtung des erzählten Mythos, der Handlung also, zu sein.

Die ideologischen Auseinandersetzungen, welche in DANIEL DRUSKAT geführt werden, waren für die damalige Zeit sicher an der Grenze des noch Erlaubten. Auch die ziemlich durchsichtige Erkenntnis, dass man mehr Erfolg hat, wenn man sich nicht an die Regeln sozialistischen Wirtschaftens hält, mag dem einen oder anderen Genossen bitter aufgestoßen sein. Doch möchte ich vom Mythos reden, von dem, was den Ereignissen einen tieferen Sinn verleiht.

Die Freundschaft zwischen Stephan und Druskat hat nur Bestand, weil Stephan immer wieder die menschliche Hand ausstreckt, welche Druskat aus ideologischen Gründen oft genug zurückweist. Auch wenn Druskat zur Zeit der Kollektivierung Hemmungen hat, den Freund öffentlich zu demütigen, beugt er sich am Ende dem Willen der Partei. Das abstrakte Wohl aller scheint ihm in seinen Entscheidungen immer wichtiger als das Wohlergehen derjenigen Menschen, die ihm nahestehen.

Der Mythos bringt diese Merkwürdigkeit in einen sinnerfüllten Zusammenhang. Druskat schindet sich und opfert alles, weil er meint, für eine Schuld büßen zu müssen. Wir finden hier ein durchaus christliches Konzept, welches die Handlung des gesamten Fernsehromanes zusammenhält (verknüpft). Durchaus nachvollziehbar, dass ihm seine realen Freundschaften weniger bedeuten. Am Ende ist die Buße offenbar abgeschlossen. Er hat für das Dorf alles erreicht was er wollte, sich selbst angezeigt und gestanden. Seinen Posten wird er verlieren und aus der Partei ausgeschlossen werden. Er wirkt befreit und entspannt. In der Perspektive ist es schwer vorstellbar, dass er sich auch in Zukunft so fanatisch für die Belange des Sozialismus einsetzen wird. Der etwas angeschlagene Max Stephan ist immer noch treu an der Seite des Freundes – wir können uns durchaus vorstellen, dass er wieder auf die Beine kommt und sich auch in Zukunft mit allerlei Regelverstößen über Wasser halten wird.

Der Mythos berichtet vom schuldhaften Grundmotiv der kommunistischen Überzeugung des Protagonisten und davon, dass er nach geleisteter Buße die Chance bekommt, vom Funktionär zum Menschen zu werden. Ob die Tragweite einer solchen Geschichte ihren Schöpfern bewusst gewesen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Den staatlichen Zensoren wird sie mit Sicherheit entgangen sein, denn der Mythos wird nicht explizit im Dialog als Idee formuliert. Und doch wirkt er stärker als jedes Lippenbekenntnis.