Dramaturgie kann verschiedene Aufgabenfelder annehmen. Sie kann Zusammenhänge zwischen der Textgestalt einer Vorlage und einer idealen Aufführung beziehungsweise Verfilmung sichtbar machen, so aufzeigend, wo Text geändert oder gestrichen werden sollte, um die Absicht der Umsetzung zu unterstützen. Dramaturgen können den Produktionsprozess begleiten und den Regisseur mit Feedback bei der Umsetzung inspirieren.
Bei Allem was Dramaturgen dazu beherrschen sollten, ist ein Gefühl für das Storytelling unabdingbar, selbst wenn das Team glaubt, keine Geschichte erzählen zu wollen. Geschichten oder Stories müssen nicht zwangsläufig ein linearer Ablauf von Ereignissen uns Handlungen sein. Eine gut gestaltete Hypnose, eine geführte Meditation beispielsweise haben einen inneren Spannungsbogen, welcher den Rezipienten bei der Stange hält, auch wenn nicht unbedingt eine „Fabel“ über diese inneren Erlebnisse verbalisiert werden kann. Ähnliches gilt auch für Musik. Selbst ein Bild, welches wir uns betrachten, fesselt unsere Aufmerksamkeit länger, wenn es unseren Blick in spannungsvoller Weise führt.
Hat etwas eine „gute Dramaturgie“, dann heißt das, dass unsere Aufmerksamkeit auf einem Zeitstrahl in einer Weise gelenkt wird, die Spannung und Neugierde erhält – das schließt retardierende Momente zum Durchatmen und sich sammeln mit ein. Die Mittel, mit welchen wir erzählen, also die Aufmerksamkeit des Rezipienten führen, sind dabei von entscheidender Bedeutung. Sind es auditive, visuelle oder verbale Mittel? Wird gelesen, geschaut, angehört oder gar in Echtzeit mitverfolgt? Ist es Theater oder Film?
Das schönste Beispiel für die Lenkung der Aufmerksamkeit des Publikums und dessen Täuschung im Theater habe ich immer in Schillers WILHELM TELL gefunden. Der berühmte Apfelschuss wird dramatisch vorbereitet. Die Zuschauer sind neugierig, wie die Inszenierung das gefährliche Manöver lösen wird. Im Bergtheater Thale haben wir immer bemerkt, wie die Zuschauer voller Erwartung ihre Kameras zückten. Die Vorstellung fand bei Tageslicht statt, keine der üblichen Bühnentricks schienen vorbereitet zu sein. Alles war gut sichtbar, keine Beleuchtung konnte irgendeine Schummelei verbergen. Auf der Spitze der Erwartung gewinnt plötzlich eine Nebenhandlung Gewicht. Ein junger Edelmann ergreift unerwartet Partei für Tell, der Konflikt eskaliert, so dass es beinahe zum Duell kommt. Während nun die Zuschauer gespannt dieser Nebenhandlung folgen, hören sie plötzlich den Aufschrei, dass Tell erfolgreich geschossen hat. Wie bei einem Zaubertrick konnte Tells Sohn im Schatten der Ablenkung unauffällig den Apfel vom Kopf nehmen und ihn durch einen ersetzen, der mit einem Pfeil durchbohrt war. In Thale fielen die Zuschauer jedes Mal darauf rein. Nach einem kurzen Moment der Überraschung lachten und applaudierten sie. Dieser Trick war durch die Textgestalt des Dramas ermöglicht worden und bedurfte nur noch des geschickten Arrangements der Figuren.
Der Film benötigt diese Art der Zauberei nicht, weil ihm andere Mittel zur Verfügung stehen. Die Entwicklung der Technik hat diese enorm erweitert, so dass hier ein Potential zur Illusionierung entsteht, welches es bisher nicht gegeben hat. Der Film ist sogar noch einen Schritt weitergegangen und hat immer wieder (seit den späten 1960gern) mit 3D experimentiert. Vor einigen Jahren gab es einen kommerziellen Höhepunkt dieser Technologie. Viele Filme waren da zu sehen – ja selbst 3D-fähige Fernsehgeräte erschienen im Handel. Der Hype ist inzwischen deutlich abgeflaut. Persönlich sehe ich die Ursache darin, dass die Augen durch 3D ungleich mehr angestrengt werden und es keine visuelle Erzählkunst gab, welche zwingend 3D erfordert hätte. Die Filme mussten ja auch in 2D funktionieren, so dass räumliche Tiefe durch geringe Tiefenschärfe im Bild vermittelt wurde – eine Konvention, die für 3D komplett überflüssig ist. Von einigen Effekten einmal abgesehen, gab es keinen erzählerischen Vorteil. In dem Moment, als der Reiz des Neuen vorbei war, fanden sich offenbar zu wenige Zuschauer, die bereit waren, den Preis erhöhter Anstrengung zu entrichten, wo kaum Gewinne in punkto Immersion zu erzielen waren.
VR könnte hier einen Schritt weiter gehen, wenn man sich zutraut, einige Experimente zu wagen und auf das Feedback von Zuschauern hört. Im Theater, im Film (selbst im 3D) bin ich als Zuschauer eher Betrachter aus der Distanz. Auch wenn die berühmte 4. Wand in diesen Medien durchbrochen werden kann, sein durch direkte Ansprache im Theater oder indem Gegenstände im 3D Kino ins Publikum geworfen werden, betrachte ich das Geschehen immer mit einem gewissen Abstand. Die Handlung wird sich jedes Mal vor mir entfalten – die Dramaturgie wird diesen Umstand immer berücksichtigen müssen.
Die VR versetzt mich wirklich und wahrhaftig in das Geschehen. Dieses tatsächliche Realitätserlebnis ist bereits untersucht worden und stellt sich selbst in comicartigen, hoch stilisierten Umgebungen ein. Da moderne Headsets einen räumlichen Klang erzeugen können, ist die Immersion nahezu perfekt. Das Erlebnis, sich einen Film anzusehen, der extra für VR gedreht wurde, unterscheidet sich prinzipiell von dem, was ich in Theater, Kino oder Film erfahren habe. Ich würde es mit dem vergleichen, was der polnische Regisseur KANTOR gehabt haben mag, als er während der Vorstellungen zwischen seinen Schauspielern herumlief. Die Frage ist nur: wie leitet man unter diesen Umständen die Aufmerksamkeit des Publikums, um Spannungsbögen zu schaffen?
Im nächsten Eintrag werde ich über meine Erfahrungen reflektieren, die ich beim Ansehen einer VR-Serie machen durfte und so der Frage etwas näher kommen.