Im vergangenen Beitrag hatte ich das VR-Erlebnis mit dem des polnischen Theaterregisseurs TADEUSZ KANTOR verglichen, der zwischen seinen Schauspielern herumläuft. Diesen Vergleich habe ich aus einem gewissen dramatischen Bedürfnis gewählt, weil ich den Kontrast überspitzen wollte. Er trifft bestenfalls für VR-Spiele zu, in denen ich mich frei bewegen kann und mit den Figuren interagiere. In der VR-Serie THE FACELESS LADY, die ich hier beschreiben möchte, waren meine Standpunkte immer festgelegt – die Figuren haben mich auch dann nicht gesehen, wenn ich direkt vor ihnen stand. Es war sozusagen eine 4. Wand inmitten der Immersion, was eine befremdliche Wirkung auf mich hatte.
Über weite Strecken konnte ich also eine konventionelle Filmdramaturgie mitverfolgen, welche der VR gar nicht bedurft hätte und durch sie sogar gestört wurde. Zwei Dinge waren für mich vor allem im Piloten besonders auffällig.
Zuweilen ging die Kamera so nah an die Protagonistin heran, dass ich das Gefühl hatte, sie körperlich zu berühren. Das war mir auch beim wiederholten Ansehen sehr unangenehm. Zudem schien es absurd, von der Schauspielerin nicht bemerkt zu werden. Sah die Kamera hingegen über die Schulter eines Menschen, hatte ich immer das Bedürfnis, den Störenfried, der unmittelbar vor mir im Sichtfeld stand, beiseite zu schieben. In einem anderen Film, der einen Tag mit einer idealen Freundin beschreiben sollte, blickte die Protagonistin wenigstens in die Kamera, so dass die Nähe nicht störend, sondern angemessen wirkte. Interessanterweise kam sie mir trotzdem nicht so nahe, wie die Hauptfigur der ersten Episode von THE FACELESS LADY. Offensichtlich sind hier für die Filmemacher noch einige Lektionen zu lernen, wenn VR im filmischen Bereich das nächste große Ding werden soll.
Das Zweite, was mich störte, waren extreme Wechsel des Kamerawinkels. Immerhin wurde ich mit jedem Schnitt willkürlich durch den Raum bewegt. In einem gewissen Maß war dies durchaus tolerierbar und vereinbarte sich mit meinen filmischen Sehgewohnheiten. Wurde ich aber mitten in einem interessanten Gespräch plötzlich an die Decke geklebt, um mir die Szene von schräg oben zu betrachten, hätte ich gern dagegen protestiert. Es sollte bei der Planung der Einstellungen unbedingt auf solche Effekte geachtet werden. Am ehesten konnte ich Situationen tolerieren in denen ich mich – wie der polnische Theaterregisseur – auf Augenhöhe mit den Schauspielern befand. In der VR bin ich eben kein Voyeur, sondern „real“ anwesend.
Diese „reale“ Anwesenheit ist für mich der große Unterschied zu allen anderen Medien, in denen mir fiktionaler Inhalt angeboten wird. Es gab für mich im Piloten sogar einen Moment, in dem sich das ausgezahlt hat. Nein – ich wurde nicht direkt angesprochen! Aber an einer Stelle hörte ich einen wichtigen Dialog von der Seite. Nicht die Kamera führte mich dahin, sondern der Ton, so dass ich mich zur Seite drehte, um die Sprecher zu beobachten. Ich musste selbst aktiv werden, um meine Aufmerksamkeit in die gewünschte Richtung zu lenken. Das gab mir ein (täuschendes) Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung, denn natürlich war die Szene so gebaut, dass ich mich der Kopfdrehung nur mit großer Konzentration hätte verweigern können.
Ich denke, wer VR Filme drehen will, sollte schon in der Vorbereitung die „reale“ Anwesenheit des Zuschauers in der Szene berücksichtigen. Einfach nur etwas immersiveres 3D zu schaffen, aber filmisch so zu erzählen wie bisher, wird vermutlich wenig Zukunft haben. VR ist – so wie ich es bisher erlebe – ein ganz besonderes Medium, welches eine neue Art von Storytelling erfordert.