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Was ich beim Schreiben eines Romanes über Filmdramaturgie gelernt habe

Eigentlich wollte ich ja ein Drehbuch schreiben. In der Phase allerdings, als aus dem Exposé ein Treatment werden sollte, begann ich zu stocken, weil ich keine Lust hatte, mich an die filmischen Konventionen zu halten. So entschloss ich mich, den Stoff in einem Roman fortzuführen. Dabei öffneten sich meine Augen. Ich begann einen wesentlichen Unterschied zwischen guten und schlechten Szenen zu verstehen, zu begreifen, weshalb mich bei Krimis Szenen langweilen oder interessieren. Und davon möchte ich berichten…

Während des Schreibens meines Romanes muss ich mich immer wieder dafür entscheiden, welche Begebenheiten ich erzählend wiedergebe und welche eine Szene erfordern, bei der eine oder mehrere Figuren sichtbar sind, die untereinander oder mit der Umwelt interagieren. Entwickelt sich die Handlung also in Echtzeit aus solchen Interaktionen oder kann sie auf eine andere Art und Weise erzählt werden? Ich entscheide mich immer wieder aufs Neue, welche Handlungsteile es verdient haben, zur Szene zu werden und über welche einfach berichtet werden kann.

Dabei kam ich immer wieder auf die Begriffe episch und dramatisch, deren Definition ich für diesen Zweck ausdrücklich nicht an die Überlegungen Brechts anlehne.

Was also verstehe ich unter dramatisch?
Dramatisch nenne ich ein Handeln, welches Widerstände überwindet und bei dem Entscheidungen eine zentrale Rolle spielen. In einer Szene kann sich das Dramatische verschieden realisieren. Wird um Status gekämpft? Welche Ziele verfolgen die Figuren? Was steht dem entgegen?
Dass, beispielsweise, ein Kriminalist einen Fall lösen möchte, der Täter sich dieser Bestrebung entzieht, ist ein zu schwacher Konflikt, als dass er die direkte Interaktion von Detektiv und Verbrecher erfordert. COLUMBO zeichnet sich dadurch aus, dass der „kleine Mann“ immer wieder gegen die elitärem Gegner triumphiert. Das gibt den Geschichten nicht nur eine gesellschaftliche Relevanz, sondern sorgt dadurch eben für zwischenmenschliche Konflikte, die es verdient haben, zwischen den Kontrahenten in Echtzeit ausgetragen zu werden. Und weil die Täter meist bekannt sind, ist das Duell zwischen zwei Menschen, der Kampf darum, wer klüger und besser ist, im besten Sinne dramatisch zu nennen. HOUSE oder BONES leben von Statuskämpfen, welche die trockenen wissenschaftlichen Fakten lebendig werden lassen. Es ergeben sich in diesen Fällen immer Interaktionen, welche ich als Zuschauer gern und gespannt in Echtzeit mitverfolge. Solche Szenen müssen sein!

Was aber ist mit Szenen, die mich als Zuschauer einfach informieren – sei’s als Exposition oder Darlegung der Fakten in Kriminalfällen? Wenn sie nicht von Konflikten zwischen Figuren begleitet werden, die man in der Szene auch kämpfend austrägt, sind sie nicht dramatisch und sollten anders erzählt werden.
Die Filmgeschichte kennt viele Varianten dieses Berichtes, welches eben episch ist. Die Montage ist vielleicht die bekannteste. Aber auch die als Lauftext verfasste Exposition der frühen Star Wars Filme erspart uns Zuschauern eine Menge schlecht gemachter Expositionsszenen.

Das also sind die Kriterien, nach denen ich mich in meinem Roman zwischen Szene und Bericht entscheide. Ich habe die Hoffnung, dass meine Überlegungen auch für das Verfassen von Drehbüchern hilfreich sind.

Virtual Reality Teil 6: Sonstige Erfahrungen

Ich benutze VR übrigens am meisten zum Meditieren. Die virtuellen Welten, in welche ich da eintauche, helfen mir, mein Alltagsbewusstsein in den Hintergrund meiner Aufmerksamkeit zu schieben. Da mein Atem visualisiert wird, ist dies eine große Hilfe, mich darauf zu fokussieren. Ich habe den Eindruck, dass meine seelische Gesundheit enorm davon profitiert. Die Sitzungen sind auch kurz genug – übergroße Anstrengung hier also kein Thema.

Kinofilme, Serien oder YouTube Beiträge in der VR anzusehen, schafft ein Äquivalent zum Kinoerlebnis. Ich sitze nicht in der Handlung, sondern im Kino. Es gibt eine APP, in der ich mein Kinoerlebnis mit anderen teilen und sogar mit deren Avataren interagieren kann. Die etwas geringere Auflösung meines billigen Headsets stört mich dabei persönlich kaum, weil ich an das Kino meiner Kindheit und Jugend erinnert werde. Serien sind besonders dann reizvoll, wenn sie gedreht wurden wie fürs Kino. Es gibt allerdings auch Serien (und YouTube Beiträge), die auf einem kleineren Panel besser wirken – bei denen das Kinoerlebnis also abträglich ist.
Wenn es meine Leser interessiert, werde ich analysieren, woran das liegen mag.

Die meiste Erfahrung mit VR existiert logischerweise im Bereich der Simulationen und der Spiele. Das Gefühl „real“ anwesend zu sein, wird hier dramaturgisch am besten berücksichtigt.

Um einen kleinen Eindruck zu vermitteln, wie real Erlebnisse in der VR werden können, möchte ich ein Erlebnis schildern:
Ich nehme inzwischen regelmäßig an Gruppenmeditationen in der VR teil. Wir sitzen in einer Art östlichen Tempel auf Kissen, alle Teilnehmer werden durch comichafte Avatare repräsentiert, die Stimmen der Sprecher sind genau im Raum verortbar. Trotz des fantasievollen und durchaus unrealistischen Settings fühlt es sich an, als wäre man gemeinsam mit richtigen Menschen in einem wirklichen Raum. Auch die graphische Stilisierung ist dem nicht abträglich. Da wir am Ende auch unsere Gedanken und Gefühle miteinander teilen, entsteht nicht selten die Intensität einer realen Gruppentherapie. Es spielt keine Rolle, dass ich dabei auf einer Couch in einer deutschen Kleinstadt sitze und die anderen in ihren Wohnungen irgendwo in den Vereinigten Staaten. Für die Dauer der Veranstaltung sind wir tatsächlich in diesem östlichen Tempel – miteinander.

Das also beendet zunächst meine Schilderungen und dramaturgischen Überlegungen zum Thema VR. Vielleicht werde ich irgendwann wieder etwas dazu schreiben. Inzwischen jedoch finde ich Filmdramaturgie interessanter.

Virtual Reality Teil 5: Dramaturgie der VR an einem Beispiel untersucht

Im vergangenen Beitrag hatte ich das VR-Erlebnis mit dem des polnischen Theaterregisseurs TADEUSZ KANTOR verglichen, der zwischen seinen Schauspielern herumläuft. Diesen Vergleich habe ich aus einem gewissen dramatischen Bedürfnis gewählt, weil ich den Kontrast überspitzen wollte. Er trifft bestenfalls für VR-Spiele zu, in denen ich mich frei bewegen kann und mit den Figuren interagiere. In der VR-Serie THE FACELESS LADY, die ich hier beschreiben möchte, waren meine Standpunkte immer festgelegt – die Figuren haben mich auch dann nicht gesehen, wenn ich direkt vor ihnen stand. Es war sozusagen eine 4. Wand inmitten der Immersion, was eine befremdliche Wirkung auf mich hatte.

Über weite Strecken konnte ich also eine konventionelle Filmdramaturgie mitverfolgen, welche der VR gar nicht bedurft hätte und durch sie sogar gestört wurde. Zwei Dinge waren für mich vor allem im Piloten besonders auffällig.
Zuweilen ging die Kamera so nah an die Protagonistin heran, dass ich das Gefühl hatte, sie körperlich zu berühren. Das war mir auch beim wiederholten Ansehen sehr unangenehm. Zudem schien es absurd, von der Schauspielerin nicht bemerkt zu werden. Sah die Kamera hingegen über die Schulter eines Menschen, hatte ich immer das Bedürfnis, den Störenfried, der unmittelbar vor mir im Sichtfeld stand, beiseite zu schieben. In einem anderen Film, der einen Tag mit einer idealen Freundin beschreiben sollte, blickte die Protagonistin wenigstens in die Kamera, so dass die Nähe nicht störend, sondern angemessen wirkte. Interessanterweise kam sie mir trotzdem nicht so nahe, wie die Hauptfigur der ersten Episode von THE FACELESS LADY. Offensichtlich sind hier für die Filmemacher noch einige Lektionen zu lernen, wenn VR im filmischen Bereich das nächste große Ding werden soll.
Das Zweite, was mich störte, waren extreme Wechsel des Kamerawinkels. Immerhin wurde ich mit jedem Schnitt willkürlich durch den Raum bewegt. In einem gewissen Maß war dies durchaus tolerierbar und vereinbarte sich mit meinen filmischen Sehgewohnheiten. Wurde ich aber mitten in einem interessanten Gespräch plötzlich an die Decke geklebt, um mir die Szene von schräg oben zu betrachten, hätte ich gern dagegen protestiert. Es sollte bei der Planung der Einstellungen unbedingt auf solche Effekte geachtet werden. Am ehesten konnte ich Situationen tolerieren in denen ich mich – wie der polnische Theaterregisseur – auf Augenhöhe mit den Schauspielern befand. In der VR bin ich eben kein Voyeur, sondern „real“ anwesend.

Diese „reale“ Anwesenheit ist für mich der große Unterschied zu allen anderen Medien, in denen mir fiktionaler Inhalt angeboten wird. Es gab für mich im Piloten sogar einen Moment, in dem sich das ausgezahlt hat. Nein – ich wurde nicht direkt angesprochen! Aber an einer Stelle hörte ich einen wichtigen Dialog von der Seite. Nicht die Kamera führte mich dahin, sondern der Ton, so dass ich mich zur Seite drehte, um die Sprecher zu beobachten. Ich musste selbst aktiv werden, um meine Aufmerksamkeit in die gewünschte Richtung zu lenken. Das gab mir ein (täuschendes) Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung, denn natürlich war die Szene so gebaut, dass ich mich der Kopfdrehung nur mit großer Konzentration hätte verweigern können.

Ich denke, wer VR Filme drehen will, sollte schon in der Vorbereitung die „reale“ Anwesenheit des Zuschauers in der Szene berücksichtigen. Einfach nur etwas immersiveres 3D zu schaffen, aber filmisch so zu erzählen wie bisher, wird vermutlich wenig Zukunft haben. VR ist – so wie ich es bisher erlebe – ein ganz besonderes Medium, welches eine neue Art von Storytelling erfordert.

Virtual Reality 4: Dramaturgie in neuen Filmen

Dramaturgie kann verschiedene Aufgabenfelder annehmen. Sie kann Zusammenhänge zwischen der Textgestalt einer Vorlage und einer idealen Aufführung beziehungsweise Verfilmung sichtbar machen, so aufzeigend, wo Text geändert oder gestrichen werden sollte, um die Absicht der Umsetzung zu unterstützen. Dramaturgen können den Produktionsprozess begleiten und den Regisseur mit Feedback bei der Umsetzung inspirieren.

Bei Allem was Dramaturgen dazu beherrschen sollten, ist ein Gefühl für das Storytelling unabdingbar, selbst wenn das Team glaubt, keine Geschichte erzählen zu wollen. Geschichten oder Stories müssen nicht zwangsläufig ein linearer Ablauf von Ereignissen uns Handlungen sein. Eine gut gestaltete Hypnose, eine geführte Meditation beispielsweise haben einen inneren Spannungsbogen, welcher den Rezipienten bei der Stange hält, auch wenn nicht unbedingt eine „Fabel“ über diese inneren Erlebnisse verbalisiert werden kann. Ähnliches gilt auch für Musik. Selbst ein Bild, welches wir uns betrachten, fesselt unsere Aufmerksamkeit länger, wenn es unseren Blick in spannungsvoller Weise führt.

Hat etwas eine „gute Dramaturgie“, dann heißt das, dass unsere Aufmerksamkeit auf einem Zeitstrahl in einer Weise gelenkt wird, die Spannung und Neugierde erhält – das schließt retardierende Momente zum Durchatmen und sich sammeln mit ein. Die Mittel, mit welchen wir erzählen, also die Aufmerksamkeit des Rezipienten führen, sind dabei von entscheidender Bedeutung. Sind es auditive, visuelle oder verbale Mittel? Wird gelesen, geschaut, angehört oder gar in Echtzeit mitverfolgt? Ist es Theater oder Film?

Das schönste Beispiel für die Lenkung der Aufmerksamkeit des Publikums und dessen Täuschung im Theater habe ich immer in Schillers WILHELM TELL gefunden. Der berühmte Apfelschuss wird dramatisch vorbereitet. Die Zuschauer sind neugierig, wie die Inszenierung das gefährliche Manöver lösen wird. Im Bergtheater Thale haben wir immer bemerkt, wie die Zuschauer voller Erwartung ihre Kameras zückten. Die Vorstellung fand bei Tageslicht statt, keine der üblichen Bühnentricks schienen vorbereitet zu sein. Alles war gut sichtbar, keine Beleuchtung konnte irgendeine Schummelei verbergen. Auf der Spitze der Erwartung gewinnt plötzlich eine Nebenhandlung Gewicht. Ein junger Edelmann ergreift unerwartet Partei für Tell, der Konflikt eskaliert, so dass es beinahe zum Duell kommt. Während nun die Zuschauer gespannt dieser Nebenhandlung folgen, hören sie plötzlich den Aufschrei, dass Tell erfolgreich geschossen hat. Wie bei einem Zaubertrick konnte Tells Sohn im Schatten der Ablenkung unauffällig den Apfel vom Kopf nehmen und ihn durch einen ersetzen, der mit einem Pfeil durchbohrt war. In Thale fielen die Zuschauer jedes Mal darauf rein. Nach einem kurzen Moment der Überraschung lachten und applaudierten sie. Dieser Trick war durch die Textgestalt des Dramas ermöglicht worden und bedurfte nur noch des geschickten Arrangements der Figuren.

Der Film benötigt diese Art der Zauberei nicht, weil ihm andere Mittel zur Verfügung stehen. Die Entwicklung der Technik hat diese enorm erweitert, so dass hier ein Potential zur Illusionierung entsteht, welches es bisher nicht gegeben hat. Der Film ist sogar noch einen Schritt weitergegangen und hat immer wieder (seit den späten 1960gern) mit 3D experimentiert. Vor einigen Jahren gab es einen kommerziellen Höhepunkt dieser Technologie. Viele Filme waren da zu sehen – ja selbst 3D-fähige Fernsehgeräte erschienen im Handel. Der Hype ist inzwischen deutlich abgeflaut. Persönlich sehe ich die Ursache darin, dass die Augen durch 3D ungleich mehr angestrengt werden und es keine visuelle Erzählkunst gab, welche zwingend 3D erfordert hätte. Die Filme mussten ja auch in 2D funktionieren, so dass räumliche Tiefe durch geringe Tiefenschärfe im Bild vermittelt wurde – eine Konvention, die für 3D komplett überflüssig ist. Von einigen Effekten einmal abgesehen, gab es keinen erzählerischen Vorteil. In dem Moment, als der Reiz des Neuen vorbei war, fanden sich offenbar zu wenige Zuschauer, die bereit waren, den Preis erhöhter Anstrengung zu entrichten, wo kaum Gewinne in punkto Immersion zu erzielen waren.

VR könnte hier einen Schritt weiter gehen, wenn man sich zutraut, einige Experimente zu wagen und auf das Feedback von Zuschauern hört. Im Theater, im Film (selbst im 3D) bin ich als Zuschauer eher Betrachter aus der Distanz. Auch wenn die berühmte 4. Wand in diesen Medien durchbrochen werden kann, sein durch direkte Ansprache im Theater oder indem Gegenstände im 3D Kino ins Publikum geworfen werden, betrachte ich das Geschehen immer mit einem gewissen Abstand. Die Handlung wird sich jedes Mal vor mir entfalten – die Dramaturgie wird diesen Umstand immer berücksichtigen müssen.

Die VR versetzt mich wirklich und wahrhaftig in das Geschehen. Dieses tatsächliche Realitätserlebnis ist bereits untersucht worden und stellt sich selbst in comicartigen, hoch stilisierten Umgebungen ein. Da moderne Headsets einen räumlichen Klang erzeugen können, ist die Immersion nahezu perfekt. Das Erlebnis, sich einen Film anzusehen, der extra für VR gedreht wurde, unterscheidet sich prinzipiell von dem, was ich in Theater, Kino oder Film erfahren habe. Ich würde es mit dem vergleichen, was der polnische Regisseur KANTOR gehabt haben mag, als er während der Vorstellungen zwischen seinen Schauspielern herumlief. Die Frage ist nur: wie leitet man unter diesen Umständen die Aufmerksamkeit des Publikums, um Spannungsbögen zu schaffen?

Im nächsten Eintrag werde ich über meine Erfahrungen reflektieren, die ich beim Ansehen einer VR-Serie machen durfte und so der Frage etwas näher kommen.

Virtual Reality Teil 3: Arbeiten

Seitdem Apple die Vision Pro auf den Markt gebracht hat, ist das Arbeiten in der VR zu einem wichtigeren Thema geworden. Da ich selbst das Geld dafür nicht in der Tasche hatte, musste ich mich wohl oder übel mit einem billigeren Modell begnügen. Mir ist daher bewusst, dass meine Erfahrungen auch von der deutlich schlechteren Auflösung meines Headsets geprägt sind.
Ich kann aber selbst damit in der VR oder besser: in der Mixed Reality arbeiten. Mein Keyboard ist bei gutem Licht ausreichend lesbar – die bei Bedarf drei riesigen virtuellen Bildschirme zunächst beeindruckend. Ich kann damit gut Texte schreiben und die größere Arbeitsfläche beim Videoschnitt ist verführerisch – vor allem die Möglichkeit, den Viewer auf einem separaten Bildschirm anzuzeigen.
Aber…
Die Vorteile der größeren Arbeitsfläche werden für mich durch die reale Auflösung meines virtuellen Bildes neutralisiert, die mich an einen älteren Röhrenmonitor erinnert. Das strengt mehr an als gewohnt.
Dem Auge bietet sich zudem keine Erholung in der realen Welt. Alles was ich sehe, sehe ich eben durch diese Brille. Das ist eine Erfahrung, die offenbar auch Benutzer der Vision Pro machen – trotz deren wunderbarer Auflösung.
Und ein dritter Aspekt: Ich trage ein Headset, dessen Gewicht ich deutlich spüre, was meinen Körper zusätzlich anstrengt.

Zum Arbeiten werde ich die VR wohl eine Weile noch nicht verwenden.

Virtual Reality Teil 2: Allgemeine Erfahrungen

Dass sich mit einem Einstiegspreis von 329 € für eine moderne VR-Brille das Phänomen Virtual Reality nun endgültig im Mainstream durchsetzen wird, halte ich für einen verfrühten Optimismus. Der schlechte Tragekomfort mitgelieferter Kopfbänder ist derart, dass man sich in zusätzliche Unkosten stürzen muss, um das Headset über längere Zeit tolerieren zu können – und selbst mit diesen finde ich die Erfahrung bisher nicht optimal. Zum Zweiten ist die Anstrengung für die Augen beachtlich. Das liegt natürlich auch an der geringeren Auflösung billigerer Produkte, wurde allerdings schon von einigen Testern der Apple Vision Pro beschrieben, deren hohe Auflösung die aktuelle Spitze der Leistungsfähigkeit darstellt. Ich glaube, dass die Wahrnehmung der Welt durch einen Bildschirm (der eben bei aller Raffinesse keine echte Natürlichkeit erzeugt) unseren Augen keine Erholung im Analogen bietet. Ein Computerbildschirm lässt uns diese Freiheit – die VR-Brille nicht.
Da wir gerade beim Thema Bildschirmerlebnisse sind und ich vermute, dass sich einige meiner Leser bisher noch nicht intensiv mit dem Thema beschäftigt haben, hier eine kurze Begriffsklärung:

Virtual Reality (VR)
Ich tauche mit meiner Brille in eine komplett andere Welt ein und bekomme, von der Akustik abgesehen, von meiner Umwelt nichts mehr mit. Es ist der höchste Grad der Immersion und vor allem dann faszinierend, wenn ich in dieser Welt meine eigenen Hände so verändert sehe, dass sie ins Bild passen.

Mixed Reality (MR)
Diese wird auch als Augmented Reality (AR) bezeichnet und mixt Bilder aus meiner aktuellen Umwelt mit der VR. Diese Umwelt wird durch Kameras aufgenommen und an die Bildschirme meiner VR-Brille weitergeleitet. So kann ich in meiner Wohnung dreidimensionale Objekte sehen, die Teil einer virtuellen Welt sind. Besonders hilfreich ist dies, wenn ich auf meinem Laptop etwas schreiben möchte. Ich kann hier einen riesigen Bildschirm so platzieren, dass er mein originales Display verdeckt und nur die Tastatur sichtbar lässt.

Nun aber zu meinen ersten Erfahrungen:

Als ich das Headset zum ersten Mal benutzte, hielt ich es eine Stunde aus. Danach hatte ich nicht nur Kopfschmerzen, sondern auch motion sickness – auch als Kinetose bekannt. Den ganzen Tag war ich danach wirklich neben der Spur und hatte Schwierigkeiten, mich auf Gespräche und eine Autofahrt zu konzentrieren. Da ich aber erfahren hatte, dass diese unangenehme Wirkung bei allmählicher Gewöhnung nachlässt, probierte ich es an den folgenden Tagen weiter Und richtig – die Nebenwirkungen ließen nach.
Am zweiten Tag machte ich die Entdeckung, dass sich nach längerem Aufenthalt in VR und MR andere Bildschirme – wie zum Beispiel der meines Smartphones so anfühlten, als wären sie auch Teil einer virtuellen Realität.
Weil aber der Aufenthalt in der VR einen nicht zu leugnenden Suchteffekt hat, steigerte ich meine Aktivitäten vorübergehend. Vor allem Kino- und Meditationserlebnisse hatten es mir angetan. Diese faszinierten mich so, dass ich kaum davon lassen konnte.
Allerdings – spätestens beim Einkaufen merkte ich eine regelrechte Gier nach der normalen Realität und konnte gar nicht genug davon kriegen. Frische Luft und analoge Umgebung wurden mir als Wert für mein Wohlbefinden dadurch richtig bewusst. Etwa zeitgleich sah ich den Bericht einer YouTuberin,die eine Apple Vision Pro 3 Tage lang durchgehend getragen hatte und die danach deutlich depressive Symptome aufwies. Das Leiden an der Künstlichkeit lässt sich also auch nicht durch Apples technische Meisterleistung beheben.

Es ist dies nach einer reichlichen Woche Benutzung noch lange kein Fazit – jedoch bin ich ein wenig hin- und hergerissen. Auf der einen Seite sind meine Entdeckungen in der virtuellen Welt aufregend, auf der anderen Seite spüre ich eine gewisse Übersättigung und setzte mein Headset inzwischen wieder seltener auf.

Virtual Reality Teil 1: Ankündigung

Als zwar technikaffiner, jedoch nichtsdestotrotz eher konservativer Mensch hatte ich mich bisher dem Thema Virtual Reality erfolgreich verweigert. Meine konservative Neigung wurde jedoch von unstillbarer Neugierde überlagert.
Zudem sieht es so aus, dass der VR Markt massentauglicher geworden ist und ein sehr erschwingliches neues Headset geeignet sein könnte, das Thema aus seiner bisherigen Nische zu locken.
Grund genug also für mich, meine Verweigerung zu beenden und einen Blick in die virtuelle Realität zu riskieren.
Dabei werden mich einige besondere Fragen interessieren:

  • Wie ist die allgemeine Erfahrung damit?
  • Kann man mit VR arbeiten?
  • Erlebnisse der Immersion mit Fitness oder Meditation.
    Ich werde mich wahrscheinlich nicht dem Thema Gaming widmen und vermutlich auch die sozialen Erfahrungen in der VR auslassen.
    Aber – als Dramaturg – interessieren mich eben auch dramaturgische Fragen. Lassen sich vielleicht besondere Erzählprinzipien für VR beschreiben?

Sprache und „Gendergerechtigkeit“

Als Dramaturg muss ich mich verständlicherweise mit den Eigenheiten der Sprache beschäftigen, ist das geschriebene Wort doch das Erste, was mir entgegen lächelt, wenn ich ein neues Stück oder Drehbuch in die Finger bekomme – sei es zum Zwecke der Realisierung oder zur Stoffentwicklung. Auf meiner Suche nach einer idealen Aufführung forsche ich permanent danach, was Sprache implizieren kann und was eben auch nicht.

Dass ich das Thema der Gendergerechtigkeit in der Sprache irgendwann einmal durchdenken muss, liegt nicht nur in der Natur meines Berufes. Es liegt auch in der Natur des Milieus, in dem ich diesen Beruf ausübe. Lange, etwa 50 Jahre lang, hat es gedauert, bis die Idee des so genannten Genderns ihren Weg von avantgardistischen Eliten der Gesellschaftswissenschaften in die Köpfe der meisten Gesellschaftswissenschaftler, Künstler, Pädagogen und Journalisten gefunden hat. Sie lässt sich also auch innerhalb meines Milieus nur noch schlecht ignorieren. Es liegt ihr ein Axiom zugrunde, nach dem die Sprache unser Denken und Handeln beeinflusst. Und wie dies bei Axiomen so ist, muss dies nicht bewiesen werden und bildet die selbstverständliche Basis für alle anderen Überlegungen. Praktisch am Axiom ist es auch, dass nicht weiter untersucht werden muss, in welcher Weise die Sprache unser Denken und Handeln beeinflusst. Meiner bescheidenen Meinung nach steckt die Forschung zu diesem Thema noch in den sprichwörtlichen Kinderschuhen.

Ich möchte dieses Axiom gern in Frage stellen, da es mir nicht geeignet scheint, die komplexen Wechselwirkungen zwischen Sprechen, Denken und Handeln auch nur im Ansatz zu verstehen. Außerdem gibt es einige praktische Überlegungen, welche mich an der Sinnhaftigkeit des Axioms zweifeln lassen.

Eine davon ist das generische Maskulinum und seine Bedeutung für die Konsolidierung dessen, was als Patriarchat bezeichnet wird. Die Befürworter einer gendergerechten Sprache sind der Ansicht, dass unser generisches Maskulinum ein wichtiges Fundament des Patriarchats darstellt und dieses nur gestürzt werden kann, wenn die Pluralformen unserer Sprache mit einem Sternchen gewürzt werden. Wer sich diesem Sprachwandel widersetzt, kann dadurch leicht als Feind der Gleichberechtigung und Befürworter einer binären, heteronormativen Gesellschaft entlarvt uns gebrandmarkt werden. Für die Freund-Feind-Erkennung ist dies natürlich sehr praktisch. Man muss eben nur dazu an das genannte Axiom glauben, man muss also voraussetzen, dass es ein unzertrennbares Band zwischen den Geschlechterunterschieden in der Sprache und der Realität gibt, dass also eine enge Korrelation zwischen Geschlechtsmarkierungen in der Sprache und dem Umgang der Geschlechter miteinander in der Gesellschaft besteht. Verlassen wir einmal den engen Horizont unserer Muttersprache, so müssen wir feststellen, dass es Sprachen auf der Welt gibt, die völlig ohne Geschlechtsmarkierungen auskommen. Diese sind also auffällig genderneutral, gendergerecht und genderinklusiv. Bei allgemeiner Gültigkeit des Axioms sollten Kulturen mit einer solchen Sprache ein gerechteres und inklusiveres Verhältnis von Männern und Frauen zu Folge haben und keinen Nährboden für ein binäres und heteronormatives Gesellschaftskonzept bieten. Nun ist unglücklicherweise nicht nur das Finnische eine solche Sprache, sondern auch das Japanische und das Türkische.

Mein zweiter Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Genderns ergibt sich aus der Kritik des generischen Maskulinums selbst. Es wird behauptet, dass dieses die Frauen unsichtbarer machen würde als eine Burka. Diese abenteuerliche Schlussfolgerung ergibt sich zunächst aus einer Interpretation deutscher Pluralformen und Berufsbezeichnungen. „Die Ärzte“ wird als ausschließlicher Plural der männlichen Form interpretiert, so alle Ärztinnen unsichtbar machend. Ich möchte dieser Debatte noch eine eigene Interpretation schenken, die ich wenigstens bisher noch nirgendwo gelesen habe.

Betrachten wir einmal die Pronomen und Artikel in ihrer Pluralform, so müssen wie feststellen, dass sie auffällig der weiblichen Form gleichen. Benutze ich das Personalpronomen „sie“ oder die Possesivpronomen „ihr“ beziehungsweise „ihre“, so ist ohne Kontext nicht klar, ob ich damit eine einzelne weibliche Person (die Ärztin) oder eine Gruppe von Menschen (die Ärzte) meine. Dasselbe trifft auf den Artikel „die“ zu. Mit einer gewissen paranoiden Energie könnte ich daraus eine Theorie konstruieren, nach der die Männer durch Artikel und Pronomen unsichtbarer gemacht werden als durch eine Tarnkappe. Oder ich bin weniger paranoid und behaupte, dass die natürliche Evolution unserer Sprache auch ohne ideologische Eingriffe für einen Ausgleich gesorgt hat. Liebe Leser – auch das sind Interpretationen, die durch nichts bewiesen sind.

Wie aber sind die Ergebnisse von Studien zu verstehen, die zu belegen scheinen, dass sich Frauen und Mädchen durch das generische Maskulinum nicht gemeint fühlen? Abgesehen vom jeweiligen Design einer Studie kann ich mir vorstellen, dass es einen Effekt hat, wenn Frauen 50 Jahre lang vermittelt wird, dass sie mit dem generischen Maskulinum nicht gemeint sind. Eine so nachhaltige Agitation muss irgendwo in den Hirnen einen neuen Kontext erschaffen – nur ist dieser nicht das Resultat eines Patriarchats sondern einer Dauerbeschallung mit bestimmten Ideen.

Warum aber verwendet man so wenig Mühe darauf, das Verhältnis der Geschlechter zueinander in seiner Komplexität zu verstehen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie jeder Mensch seinen Bedürfnissen entsprechend das beste und erfüllteste Leben führen kann? Nun, erstens ist es viel einfacher, ein Sternchen in Pluralformen zu quetschen und zweitens wurde das Denken fortschrittlicher Menschen im Abendland durch einen Mann und sein Werk in einer Weise geprägt, die auch heute noch sehr bedeutsam ist.

Der Mann hieß Mao Zedong, und sein Werk war die „Große Proletarische Kulturrevolution“. Die Faszination dieser Idee für die revolutionären Denker des Westens war die, dass sie sich hauptsächlich auf die Gebiete der Geisteswissenschaften und der Kultur beschränkte und sich nicht mit den Mühen ökonomischer und gesellschaftlicher Realitäten befasste. Die intellektuellen Schuster konnten so bei ihren Leisten bleiben und sich auf diejenigen Felder des Lebens stürzen, auf denen sie sich daheim fühlten. Der durch Mao angezettelte „Krieg der Symbole“ war und ist ein Tummelplatz willkürlicher sprachlicher Festlegungen und Tabus, der Entlarvung und Marginalisierung scheinbarer Feinde. Auch die „Große Proletarische Kulturrevolution“ nahm ihren Anfang bei den chinesischen Studenten. Zunächst entlarvten sie die Feinde als Unmenschen – später schlugen sie sie tot.

Fragte man mich, warum ich nicht gendere, so würde ich antworten: „Weil ich kein Maoist bin.“ Es fällt mir schwer, mich in eine geistige Tradition zu stellen, die nach einigen Schätzungen in China fast genauso viele Tote erzeugt hat wie der Zweite Weltkrieg und die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. Nennt mich einen ewig Gestrigen aber lasst mich bitte am Leben.

Katharsis

Natürlich muss sich ein Dramaturg irgendwann einmal zum Thema Katharsis äußern. Dabei gestehe ich zu meiner Schande, dass ich dieses Konzept, welches durch Aristoteles, vom Kultischen kommend, als zentrales Wirkungsprinzip der Tragödien markiert worden war, lange nicht verstehen konnte. Es war mir schleierhaft, wie Gefühle gereinigt werden können, indem man sie erregt. Während des Studiums und meiner späteren Berufspraxis stellte ich mir selbst und Anderen diese Frage, ohne darauf eine befriedigende Antwort zu erhalten. Es gab Debatten darüber, ob die Affekte Φόβος und Ἔλεος als Furcht und Mitleid oder lieber als ‌Schrecken/Schauder und ‌Jammer/Rührung übersetzt werden sollten. Wir sprachen auch darüber, dass Aristoteles das Ideal von Staatsbürgern hatte, deren Affekte genau das rechte Maß hatten, weil jene ja an wichtigen politischen Entscheidungen mitwirken mussten. Wir können heute verstehen, dass es vielleicht keine gute Idee ist, dass Menschen, die die Schrecken des Krieges nicht mehr kennen, über Krieg und Frieden entscheiden. Wir haben auch erfahren, dass die panische Angst vor einer Seuche nicht immer zu den besten Entscheidungen geführt hat. Kurz: zu viel oder zu wenig Φόβος kann einer Gesellschaft großen Schaden zufügen. Dass die POETIK des Aristoteles eigentlich Teil seiner POLITIK gewesen ist, leuchtete mir schon damals ein und ist mir heute lediglich klarer geworden.

Aber trotzdem konnte ich sehr lange nicht verstehen, wie Gefühle gereinigt werden, indem man sie erregt. Erst durch meine psychotherapeutische Ausbildung gingen mir die nötigen Lichter für diese Erkenntnis auf. Vor allem die Expositionstherapie öffnete mir die Augen. Indem ich Angst aushalte, befreie ich mich von ihrem Übermaß. Ein Kino- oder Theaterbesuch kann einen solchen Effekt ebenso haben wie ein Fernseh- beziehungsweise Streamingabend. Was ich als Kunstwerk sehe, regt meine Gefühle an, ohne eine direkte Konsequenz für mein Leben haben zu müssen. Während der Rezeption des Werkes erlebe ich vielerlei emotionale Impulse, welche sich durch Katharsis reinigen lassen. Die Kunst konfrontiert mich mit Dingen, welche im Alltag durchaus bedrohlich wären oder mich dazu bringen würden, mit einer MPi Amok zu laufen. Die künstlerische Verfremdung hingegen und das Wissen, dass ich einer Fiktion und nicht der Wirklichkeit beiwohne, helfen mir, alle möglichen Affekte auszuhalten und so eine Reinigung zu erfahren. Im Idealfall bin ich durch eine solche Katharsis emotional ein wenig ausgeglichener geworden.

Das moderne Bestreben, bestimmte Affekte von den Zuschauern fernzuhalten, acht zu geben, dass möglichst niemand gekränkt wird, die Kunstwerke durch Sensitivity Reader filtern zu lassen, kurz: dem Unangenehmen keine Plattform zu bieten, erschwert eine Katharsis. Wie sollen Menschen lernen, Unangenehmes emotional auszuhalten? Wie sollen sie so etwas wie eine Resilienz aufbauen können? Als Menschen müssen wir uns körperlichen und mentalen Herausforderungen stellen, um gesund zu bleiben. In der demokratischen Debatte müssen wir eine Gegenposition emotional aushalten können, um gesprächsfähig zu bleiben. Wenn mich alles triggert, laufe ich blind vor Wut oder Angst durch das gesellschaftliche Geschehen. Wenn Kampf oder Flucht die demokratische Debatte verdrängen, ist die Demokratie selbst am Ende. Wenn wir unsere mentale Gesundheit und unser Gemeinwesen stabil halten wollen, brauchen wir immer wieder die Katharsis. Das Unangenehme darf weder aus der Kunst noch aus der Debatte ausgeschlossen werden, wenn wir nicht zu einem Haufen Neurotikern werden wollen, der panisch dem Abgrund entgegenstrebt.

Dritter Teil: ideale und intendierte Schauspieler im Bereich des Theaters

Müssen wir in Film- und Serienproduktionen das Können der Autoren berücksichtigen, wenn es um die Wechselwirkung von Texten und Schauspielkunst geht, bleibt uns diese Mühe im Theater erspart, wenn wir uns an sogenannte „gute Stücke“ halten, an Texte also, deren Qualität die Prüfungen der Zeit bestanden hat.

Dabei zu glauben, dass hierbei ideale, intendierte und real existierende Schauspieler eine reibungslose Einheit bilden würden, ist eine sehr gefährliche Täuschung.

Wie bereits in den Beiträgen über Helenas Monolog beschrieben, hat jede Theaterepoche eine ihr eigene Schauspielkunst vorzuweisen, die durchaus verschiedene Stile beinhalten kann. Unter Berücksichtigung globaler Wahrnehmungen wäre es wahrscheinlich gescheiter, von Theaterkulturen mit jeweils besonderer Schauspielkunst zu sprechen. So ist das, was wir im Abendland als Norm für gutes Schauspiel ansehen, im kulturellen Sinn an eine Zeit und an einen Ort gebunden. Wir können keinesfalls stillschweigend voraussetzen, dass Sophokles oder Shakespeare an unsere bürgerliche Menschendarstellung gedacht haben, als sie die Texte ihrer Stücke niederschrieben.

Wie „realistisch“ in unserem Sinn konnten Shakespeares Mimen wirklich agieren? Wir wissen aus den Stücken, dass die Dekoration verbal durch die Figuren beschrieben werden musste, weil sie auf der kargen Bühne nicht aufgebaut war. Wir finden ebenso die gesprochenen inneren Regungen. Figuren, die über sich sprechen, suchen oft Metaphern für ihr eigenes Leid. Es wird, zumindest in Worten, nicht direkt zum Ausdruck gebracht. Gefühle entzünden sich vielmehr an Schicksalen, die dem eigenen ähneln. Eigenes Leid wächst über das Individuelle hinaus und bekommt so die Größe eines Welterlebens. Die Figuren allerdings können sich in dieser Verallgemeinerung vom unmittelbaren Erleben distanzieren – sie müssen es sogar, um einer solchen Poesie fähig zu sein. Ab und an kommt es auch vor, dass die äußeren Anzeichen innerer Bewegung vom szenischen Partner ausgesprochen werden. Es scheint mir nicht zu kühn anzunehmen, dass solche Anzeichen in der Aufführung ebenso wenig vorhanden waren wie die Dekoration, dass also die unmittelbare Darstellung innerer Regungen wahrscheinlich nicht zum Repertoire elisabethanischer Schauspieler gehörte. Das passt zu Vielen, was man über das Theater an der Schwelle zum Barock weiß. Die Schauspielkunst dieser Zeit hat sich sehr von dem unterschieden, was wir als wahrhaftig betrachten.

Wollen wir Shakespeares Stücke so spielen, als wären sie für die realistische Menschendarstellung geschrieben worden, können wir – rein psychologisch – auf einige kreative Herausforderungen stoßen. Die Texte suggerieren in ihrer unveränderten Form eine recht gemäßigte Emotionalität – Man vergleiche sie einmal mit den Dialogen des STURM UND DRANG. So komplexe Gedanken und Vergleiche lassen sich nicht entwickeln und aussprechen, während man von Affekten gepeitscht wird. Versucht man es trotzdem, wirken die Affekte erzwungen oder der Text geistig nicht durchdrungen – also unverständlich. Wir wissen, dass wir uns weniger gewählt ausdrücken, je stärker wir erregt sind. In Hamlets Rede an die Schauspieler finden wir unter anderem die Aufforderung: „Nor do not saw the air too much with your hand, thus, but use all gently, for in the very torrent, tempest, and, as I may say, whirlwind of your passion, you must acquire and beget a temperance that may give it smoothness.“

Sollte Hamlets Hecuba-Monolog allerdings eine authentische Beschreibung damaliger Schauspielkunst sein, so zeigten die Schauspieler dieser Zeit ihre innere Bewegung durch Mimik, Tränen in den Augen und eine brüchige Stimme. Dies scheint meine Behauptungen zu widerlegen – der betreffende Schauspieler aber spricht vom Leid anderer Menschen und liefert einen Botenbericht ab.
„What’s Hecuba to him, or he to [Hecuba],
That he should weep for her? What would he do
Had he the motive and [the cue] for passion
That I have?“
Hamlet mag ja glauben, dass der Mime die Bühne an seiner statt mit Tränen ertränken würde, stellt aber fest, dass ihm, dem Betroffenen, eine solche dramatische Erregung fehlt. Es scheint so, dass es zu Shakespeares Zeiten einfacher war, über das Leid anderer mit seelischer Bewegung und gut formuliert zu sprechen – aber immer noch ist es so, dass man sich besser auf Dinge emotional einlassen kann, die einen selbst nicht betreffen. Vielleicht ist es ein genialer Kunstgriff Shakespeares, dass er Figuren dadurch emotional involviert, dass sie über das Leid anderer sprechen. Als Hermia und Lysander im SOMMERNACHTSTRAUM das Urteil des Herzogs erfahren, beginnen sie sofort, Beispiele unglücklicher Liebe zu suchen und stellen im Mitleid mit diesen ihre eigene Betroffenheit dar. Im Prinzip reden auch sie über Hecuba. Dieser Weg zur Emotionalität der Figuren, der zudem unmittelbar an die Musikalität der Verssprache gekoppelt ist, ist vom Weg Stanislawskis und all seiner Nachfolger wesentlich verschieden.

Kurz erwähnen möchte ich die Wirkung der Travestie. Wie allgemein bekannt sein dürfte, war es Frauen zu Shakespeares Zeiten verboten, Theater zu spielen. Frauenrollen wurden also von männlichen Schauspielern dargeboten. Wie das ausgesehen haben mag, stelle ich mir anhand von Dragqueens vor, welche in ihren Shows einige Aspekte weiblichen Verhaltens überspitzt darstellen. Ich weiß ja nicht, wie es meinen Lesern geht, aber auf mich wirken solche Shows einigermaßen satirisch und nicht auf eine realistische Erforschung des Innenlebens von Frauen ausgerichtet. Aber irgendwie stelle ich mir vor, dass die Lady Macbeth weniger dämonisch wirkt, wenn sie von einem Mann in Frauenkleidern gespielt wird. Ich muss jedoch zugeben, dass wir auf der Welt Theatertraditionen haben, in denen ernsthafte Frauenrollen von Männern gespielt werden, ohne dass diese wie eine Dragqueen wirken. Die traditionelle Pekingoper mag dafür als gutes Beispiels gelten. Weil aber die Darstellungsweise bei allen Rollen hochstilisiert ist, fällt für mich die Travestie der Frauenrollen gar nicht so sehr aus dem Rahmen. Wenn die elisabethanische Schauspielkunst ähnlich hoch stilisiert war, wird die Lady Macbeth vermutlich nicht als Dragqueen für satirische Effekte gesorgt haben. Über dieses Thema muss ich noch forschen, denn es interessiert mich, ob sich etwas dadurch ändert, dass wir heute Shakespeares Frauenrollen von Frauen spielen lassen.