In meinen Büchern über Schauspielpädagogik bin ich auf das künstlerische Gewissen zu sprechen gekommen, einen Begriff, den ich möglicherweise erfunden habe und der in meinem Denken einen vornehmen Platz einnimmt.
Meinen Schauspielstudenten habe ich dieses „Gewissen“ immer so demonstriert: Nachdem ich mir pantomimisch eine viel zu weite Hose übergezogen hatte, wollte ich damit, ohne sie zuzuknöpfen oder mit Gürtel bzw. Hosenträgern zu befestigen, loslaufen. In meinem Kopf rutschte die Hose sofort bis an die Knöchel. Dies habe ich nicht willentlich erzeugt, um besonders realistisch zu sein. Mein Unbewusstes hat dies assoziiert – ohne aktives Zutun meinerseits. Mein künstlerisches Ich neigt dazu, aus allen möglichen Anregungen Geschichten zu spinnen. Die heruntergerutschte Hose ist da kein Einzelfall. Meine Geschichten können durchaus absurde Züge annehmen. Neulich unterhielten wir uns über den Verkauf von Vogelspinnen. Dabei erfuhr ich, dass diese mit Paketen verschickt werden, nachdem sie zu diesem Zwecke unterkühlt worden sind. In meinen Kopf drängte sich das Bild eines Paketes, aus dem Spinnenbeine herausragen, welche Paket und Spinne selbständig zum Empfänger bringen. Als ich dies einem Kollegen erzählte, fand er es genauso lustig wie ich, so dass wir lachend einige Minuten lang diese kleine Geschichte ausmalten. Danach hörten wir abrupt auf, weil das Thema nicht mehr Spaß hergab. Unser künstlerisches Gewissen wusste offenbar, wann es genug war. Aber zurück zur Hose, die mein künstlerisches Ich bereits an meine Knöchel befördert hatte. Da waren sie nun einmal, so dass mein künstlerisches Gewissen mich daran hinderte loszulaufen. Wäre ich in diesem Moment trotzdem losgelaufen, hätte ich mich aus dem Strom künstlerischer Assoziationen gerissen, ein Flow wäre verhindert worden, und meine Aktion hätte einen unorganischen, gezwungenen Eindruck hinterlassen. Anstatt als Künstler zu agieren, hätte ich mich zur Marionette einer Regieanweisung gemacht. Ein erneutes Hochziehen der Hose und ein imaginierter Gürtel befreiten mich aus diesem Dilemma.
Ich habe für diese Art zu denken von Kollegen schon eine Menge Kritik bekommen. Manchmal müsse man es einfach behaupten oder dürfe sich nicht von naturalistischen Konzepten in seiner Schöpferkraft begrenzen lassen. Diese Kritiken haben mich auch oft verunsichert, bis ich merkte, dass der fehlende Gürtel nichts mit naturalistischen Absichten und alles mit der Art und Weise, wie meine Phantasie arbeitet, zu tun hat.
Meine Phantasie macht etwas, was jeder Mensch von sich kennt: sie verknüpft Sichtbares miteinander und überbrückt damit unsichtbare Lücken. Wir können Wörter erkennen, auch wenn einige ihrer Buchstaben durch Zahlen ersetzt worden sind. Wir erkennen Bilder auch dann, wenn sie nicht vollständig gemalt worden sind. Diese Verknüpfungen sind Leistungen der Phantasie von Künstlern und Rezipienten. In ihnen begegnen sich beide, auch dann, wenn die Produkte ihrer Phantasie in ihren Köpfen ganz unterschiedliche Bilder darstellen können. Ist das Sichtbare im Kopf des Künstlers organisch miteinander verknüpft, erhöht dies die Chance einer organischen Verknüpfung im Kopf des Rezipienten.
Aristoteles nannte – wie bereits bemerkt – die Fabel (Mythos) eine Verknüpfung von Begebenheiten. Das künstlerische Gewissen spielt hierbei für Autoren eine ebenso große Rolle wie für Schauspieler. Genau so, wie ich akzeptieren muss, dass ich einen imaginierten Gürtel benötige, um die hochgezogene Hose mit der Aktion des Loslaufens zu verknüpfen, sollten Autoren akzeptieren, was sie benötigen, um Begebenheiten zu einer Geschichte zu verknüpfen. Dazu müssen sie auf die Stimme ihres künstlerischen Gewissens hören.