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Das künstlerische Gewissen

In meinen Büchern über Schauspielpädagogik bin ich auf das künstlerische Gewissen zu sprechen gekommen, einen Begriff, den ich möglicherweise erfunden habe und der in meinem Denken einen vornehmen Platz einnimmt.

Meinen Schauspielstudenten habe ich dieses „Gewissen“ immer so demonstriert: Nachdem ich mir pantomimisch eine viel zu weite Hose übergezogen hatte, wollte ich damit, ohne sie zuzuknöpfen oder mit Gürtel bzw. Hosenträgern zu befestigen, loslaufen. In meinem Kopf rutschte die Hose sofort bis an die Knöchel. Dies habe ich nicht willentlich erzeugt, um besonders realistisch zu sein. Mein Unbewusstes hat dies assoziiert – ohne aktives Zutun meinerseits. Mein künstlerisches Ich neigt dazu, aus allen möglichen Anregungen Geschichten zu spinnen. Die heruntergerutschte Hose ist da kein Einzelfall. Meine Geschichten können durchaus absurde Züge annehmen. Neulich unterhielten wir uns über den Verkauf von Vogelspinnen. Dabei erfuhr ich, dass diese mit Paketen verschickt werden, nachdem sie zu diesem Zwecke unterkühlt worden sind. In meinen Kopf drängte sich das Bild eines Paketes, aus dem Spinnenbeine herausragen, welche Paket und Spinne selbständig zum Empfänger bringen. Als ich dies einem Kollegen erzählte, fand er es genauso lustig wie ich, so dass wir lachend einige Minuten lang diese kleine Geschichte ausmalten. Danach hörten wir abrupt auf, weil das Thema nicht mehr Spaß hergab. Unser künstlerisches Gewissen wusste offenbar, wann es genug war. Aber zurück zur Hose, die mein künstlerisches Ich bereits an meine Knöchel befördert hatte. Da waren sie nun einmal, so dass mein künstlerisches Gewissen mich daran hinderte loszulaufen. Wäre ich in diesem Moment trotzdem losgelaufen, hätte ich mich aus dem Strom künstlerischer Assoziationen gerissen, ein Flow wäre verhindert worden, und meine Aktion hätte einen unorganischen, gezwungenen Eindruck hinterlassen. Anstatt als Künstler zu agieren, hätte ich mich zur Marionette einer Regieanweisung gemacht. Ein erneutes Hochziehen der Hose und ein imaginierter Gürtel befreiten mich aus diesem Dilemma.

Ich habe für diese Art zu denken von Kollegen schon eine Menge Kritik bekommen. Manchmal müsse man es einfach behaupten oder dürfe sich nicht von naturalistischen Konzepten in seiner Schöpferkraft begrenzen lassen. Diese Kritiken haben mich auch oft verunsichert, bis ich merkte, dass der fehlende Gürtel nichts mit naturalistischen Absichten und alles mit der Art und Weise, wie meine Phantasie arbeitet, zu tun hat.

Meine Phantasie macht etwas, was jeder Mensch von sich kennt: sie verknüpft Sichtbares miteinander und überbrückt damit unsichtbare Lücken. Wir können Wörter erkennen, auch wenn einige ihrer Buchstaben durch Zahlen ersetzt worden sind. Wir erkennen Bilder auch dann, wenn sie nicht vollständig gemalt worden sind. Diese Verknüpfungen sind Leistungen der Phantasie von Künstlern und Rezipienten. In ihnen begegnen sich beide, auch dann, wenn die Produkte ihrer Phantasie in ihren Köpfen ganz unterschiedliche Bilder darstellen können. Ist das Sichtbare im Kopf des Künstlers organisch miteinander verknüpft, erhöht dies die Chance einer organischen Verknüpfung im Kopf des Rezipienten.

Aristoteles nannte – wie bereits bemerkt – die Fabel (Mythos) eine Verknüpfung von Begebenheiten. Das künstlerische Gewissen spielt hierbei für Autoren eine ebenso große Rolle wie für Schauspieler. Genau so, wie ich akzeptieren muss, dass ich einen imaginierten Gürtel benötige, um die hochgezogene Hose mit der Aktion des Loslaufens zu verknüpfen, sollten Autoren akzeptieren, was sie benötigen, um Begebenheiten zu einer Geschichte zu verknüpfen. Dazu müssen sie auf die Stimme ihres künstlerischen Gewissens hören.

Wir treten in ein neues Mittelalter ein

Neue Technologien haben die Unart, gesellschaftliche Veränderungen zu provozieren, die keiner erwartet hat. Wir kennen die Auswirkungen des Buchdrucks, der Mechanisierung oder der Massenproduktion. Im Augenblick sehen wir uns mit der Digitalisierung konfrontiert, deren Konsequenzen wir unmöglich prophezeien können. Was allerdings zu leisten ist, ist eine Beschreibung der Veränderungen, welche bereits stattgefunden haben.

Als Neil Postman uns davor warnte, uns zu Tode zu amüsieren, hatte Apple gerade den MAC vorgestellt, der als Blaupause moderner PC’s angesehen werden kann. Zu diesem Zeitpunkt war eine solche Entwicklung noch marginal, so dass das Fernsehen als Hauptfeind angesehen wurde. „Fernsehen wurde nicht für Idioten erschaffen – es erzeugt sie.“ Im Mittelalter benutzte man den Begriff idiotae, um die ungebildete, unwissende Mehrheit der Bevölkerung zu kategorisieren, die weder lesen noch schreiben konnte. Die Wissenschaft nennt diese Menschen auch „illiterat“, weil sie am gesellschaftlichen Diskurs nicht über die Schriftsprache teilnahm. Die idiotae standen als Gruppe im Gegensatz zu den docti, den Gelehrten, den Schriftkundigen, den Literaten.

Die fortschreitende Digitalisierung hat die vom Fernsehen begonnene Entwicklung zu einem neuen Höhepunkt getrieben. Sie hat eine neue Schicht von idiotae erschaffen, welche illiterat sind, obwohl sie lesen und schreiben können. Illiterat bedeutet in diesem Fall, dass sie sich nicht vom geschriebenen Wort inspirieren lassen, sondern Informationen und Gedanken aus Dokumentationen, gesprochenen Kommentaren, Memes, Tweets und ähnlichem ziehen. Die docti unserer Zeit können nicht nur lesen und schreiben, sondern benutzen diese Fähigkeiten auch, um am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen.

Äußerte ich diese Gedanken in einer Diskussion, würden mich Menschen fragen: „Was ist daran so schlimm? Warum muss man denn Bücher lesen?“

Niemand muss! Aber im Unterschied zu anderen Formen des Austausches bestimmt das Lesen nicht das Tempo der Rezeption. Ich lese in meinem eigenen Tempo, in der Geschwindigkeit also, in der ich dem Text folgen kann. Jederzeit habe ich die Möglichkeit, vom Buch aufzuschauen, zu assoziieren, über das Gelesene nachzudenken. Das erhöht meine Fähigkeit, auch komplexeren Texten zu folgen. Zu einem beliebigen Moment setze ich meine Lektüre fort. Nehme ich dasselbe audiovisuell wahr, muss ich dem Tempo der Darbietung folgen. Diese ist in der Regel auch so organisiert, dass ich möglichst nicht das Bedürfnis nach einer Pause verspüre. Der Unterschied in der Art der Rezeption ist wesentlich! Beim Lesen kann ich komplexere Gedanken verstehen und habe es auch leichter, zum Text meine eigene Meinung zu bilden. Das Lesen, so möchte ich behaupten, bildet mich tiefer und komplexer, weil es mir ein besseres Verständnis und kritisches Denken ermöglicht. In meinem eigenen Tempo der Rezeption komme ich einfach besser „dazwischen“ – muss ich dem Dargebotenen in Echtzeit folgen, bin ich ihm deutlich stärker ausgeliefert. Auch das in Echtzeit Dargebotene muss seine Struktur so vereinfachen, dass der Zuschauer in Echtzeit folgen kann. Für Regisseure und Dramaturgen ist dies übrigens eine große Herausforderung beim Inszenieren anspruchsvoller Stücke.

Dass sich der Medienkonsum vom überwiegend Literarischen zum überwiegend Audiovisuellen verschoben hat, erinnert mich an einen Satz, welcher für mich einen wesentlichen Faktor mittelalterlicher Kultur beschreibt: ‌ Pictura est laicorum literatura – „Das Bild ist die Literatur der Laien.“ Die Abwendung vom Literarischen hat eine wachsende Subkultur illiterater Menschen geschaffen, die zwar lesen und schreiben können – ihre Bildung aber nicht aus Schriften beziehen. Durch die Eigenart der Rezeption in Echtzeit verlieren sie gewissermaßen die Kontrolle über ihr eigenes Denken. Ihr Gehirn wird nicht mehr auf kritisches Hinterfragen oder das Verstehen komplexer Zusammenhänge trainiert, denn dazu braucht es die Muße und Selbstbestimmung des Lesers. Das Medium ist ein großer Teil der Botschaft.

Auch im Mittelalter standen die Geistlichen als Vertreter der Herrschenden vor dem Problem, ihrer illiteraten Zuhörerschaft die herrschenden christlichen Ideen zu vermitteln. Dabei haben sie nicht die Ideen eines Thomas von Aquino diskutieren können, dessen Gedanken auch dann zu komplex gewesen wären, wenn man sie in die jeweilige Volkssprache übersetzt hätte. Dem Volke mussten einfache Botschaften, Geschichten und Bilder geboten werden – Dinge, welche auch ungebildete Menschen begreifen konnten.

„Etwa 17 Millionen Erwachsene in Deutschland haben Probleme damit, komplexe Texte zu verstehen. Damit auch sie sich über aktuelle Themen informieren können, strahlt die tagesschau ab sofort Fernsehnachrichten in Einfacher Sprache aus.“ So lesen wir es auf der offiziellen Webseite (Stand 12.06.2024). Wer diese Beispiele Einfacher Sprache hört, wird auch dann erschüttert sein, wenn er kein Akademiker ist. Es werden primitive Aussagen vorgestellt, die keinen Hinweis auf Zusammenhänge enthalten und so keine Hilfe zum Verständnis aktueller Geschehnisse geben können. Ich glaube, dass die Geschichten, welche im Mittelalter den idiotae erzählt wurden, die Bilder, die man ihnen präsentierte, anspruchsvoller waren als die Einfache Sprache.

Ein Jahr lang habe ich an einer Brandenburgischen Oberschule unterrichtet. Der größte Teil meiner Schüler hatte eine profunde Abneigung gegen Lesen und Schreiben. Selbst ein kurzer Abschnitt in einem Lehrbuch, das für ihre Altersklasse geschrieben worden war, selbst die Inhalte des Rahmenlehrplans stellten eine wesentliche Überforderung für den größten Teil dieser Schüler dar. Was ich von der Digitalisierung im Lehrbetrieb soweit gesehen habe, ist eher geeignet, dem Primitivismus Vorschub zu leisten und die illiterate Konditionierung fortzusetzen. Man könnte überspitzt formulieren, dass die Gruppe der idiotae täglich Zuwachs bekommt und die docti sich nicht mit der Hebung der allgemeinen Bildung befassen, sondern damit, den idiotae intellektuell entgegenzukommen und so ihre Chancen auf Verständnis und kritisches Denken zu minimieren.

Dies, liebe Leser, ist eine kulturelle Entwicklung, die mich sehr an das Mittelalter erinnert.

Daniel Druskat (2): Kunst, Kultur und Ideologie

Ideologie lässt sich ohne größere geistige Anstrengung erkennen, was sie für Meinungsregulatoren jeglicher Couleur besonders attraktiv erscheinen lässt. Es geht in ihr um Sagbares und Nicht-Sagbares. Kultur ist da schon deutlich komplexer, denn in ihr geht es weniger um Worte als um Verhaltensweisen. Ob wir einer Frau die Tür aufhalten oder nicht, ob wir sie nötigen, sich züchtig zu kleiden oder ihre Freizügigkeit respektieren, ob wir mit Besteck oder mit den Händen essen, welches Besteck wir wählen, ob wir Trinksitten haben oder nicht, wie wir zu Recht und Gerechtigkeit stehen, ob wir lieber verzeihen oder rächen – dies alles sind Elemente einer Kultur, die auf mannigfaltige Weise verknüpft sind. Im Unterschied zu ideologischen Positionen lässt sich ein kulturelles Fundament auf Nachfrage nicht mit wenigen klaren Sätzen beschreiben.

Unsere Kunst steht mit der Kultur in lebhaftester Beziehung. Eines ihrer wichtigsten Instrumente ist der Umgang mit Mythen. Mythos ist das, was wir in den Schriften des Aristoteles häufig als Fabel übersetzt finden und heute vielleicht eher als Story oder Plot bezeichnen würden. Das Wort Mythos ist mir aber näher, weil es die sinnstiftende Eigenart von Geschichten besser zum Ausdruck bringt. Wenn Aristoteles den Mythos als „Verknüpfung von Begebenheiten“ definiert, können wir unterstellen, dass die Begebenheiten erst durch ihre Verknüpfung einen Sinn bekommen. Insofern gibt es Geschichten, welche wir als eine Art Gründungsmythen bestimmter kultureller Elemente betrachten können. So sind die Evangelien Geschichten, die uns zu christlichen Werten und christlichem Verhalten führen – so ist die Legende vom Müller von Sanssouci als eine Art Beginn unseres modernen Verständnisses vom Rechtsstaat zu werten. Und genauso, wie die Kunst Mythen schafft oder bestätigt, kann sie diese auch dekonstruieren oder gar vernichten. Beinahe wichtiger als die Beschreibung verhandelter Gedanken scheint mir daher in den Werken der dramatischen Kunst die Betrachtung des erzählten Mythos, der Handlung also, zu sein.

Die ideologischen Auseinandersetzungen, welche in DANIEL DRUSKAT geführt werden, waren für die damalige Zeit sicher an der Grenze des noch Erlaubten. Auch die ziemlich durchsichtige Erkenntnis, dass man mehr Erfolg hat, wenn man sich nicht an die Regeln sozialistischen Wirtschaftens hält, mag dem einen oder anderen Genossen bitter aufgestoßen sein. Doch möchte ich vom Mythos reden, von dem, was den Ereignissen einen tieferen Sinn verleiht.

Die Freundschaft zwischen Stephan und Druskat hat nur Bestand, weil Stephan immer wieder die menschliche Hand ausstreckt, welche Druskat aus ideologischen Gründen oft genug zurückweist. Auch wenn Druskat zur Zeit der Kollektivierung Hemmungen hat, den Freund öffentlich zu demütigen, beugt er sich am Ende dem Willen der Partei. Das abstrakte Wohl aller scheint ihm in seinen Entscheidungen immer wichtiger als das Wohlergehen derjenigen Menschen, die ihm nahestehen.

Der Mythos bringt diese Merkwürdigkeit in einen sinnerfüllten Zusammenhang. Druskat schindet sich und opfert alles, weil er meint, für eine Schuld büßen zu müssen. Wir finden hier ein durchaus christliches Konzept, welches die Handlung des gesamten Fernsehromanes zusammenhält (verknüpft). Durchaus nachvollziehbar, dass ihm seine realen Freundschaften weniger bedeuten. Am Ende ist die Buße offenbar abgeschlossen. Er hat für das Dorf alles erreicht was er wollte, sich selbst angezeigt und gestanden. Seinen Posten wird er verlieren und aus der Partei ausgeschlossen werden. Er wirkt befreit und entspannt. In der Perspektive ist es schwer vorstellbar, dass er sich auch in Zukunft so fanatisch für die Belange des Sozialismus einsetzen wird. Der etwas angeschlagene Max Stephan ist immer noch treu an der Seite des Freundes – wir können uns durchaus vorstellen, dass er wieder auf die Beine kommt und sich auch in Zukunft mit allerlei Regelverstößen über Wasser halten wird.

Der Mythos berichtet vom schuldhaften Grundmotiv der kommunistischen Überzeugung des Protagonisten und davon, dass er nach geleisteter Buße die Chance bekommt, vom Funktionär zum Menschen zu werden. Ob die Tragweite einer solchen Geschichte ihren Schöpfern bewusst gewesen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Den staatlichen Zensoren wird sie mit Sicherheit entgangen sein, denn der Mythos wird nicht explizit im Dialog als Idee formuliert. Und doch wirkt er stärker als jedes Lippenbekenntnis.

Daniel Druskat (1): dramaturgische Modelle

Aus Gründen, welche für diesen Beitrag bedeutungslos sind, habe ich mir eine Serie des DDR-Fernsehens angeschaut, die in den Jahren 1975 und 1976 produziert wurde. DANIEL DRUSKAT wird heute mit dem modischen Begriff „Miniserie“ klassifiziert und bezeichnete sich damals als „Fernsehroman“.

Nicht aber diese Genrebezeichnungen sind es, die mich faszinierten, sondern ein dramaturgisches Phänomen, welches eine Zeit bestimmte, in der ich die ersten Gehversuche auf der Bühne unternahm. In meinen 3 Büchern über die Schauspielpädagogik hatte ich von der schauspielmethodischen Seite immer wieder beschrieben, dass sich in dieser Epoche die Lehren Stanislawskis, ein gewisses Verständnis von Brecht und das alte repräsentativ-deklamatorische Theaterverständnis vermischten. DANIEL DRUSKAT nun führte mir vor Augen, dass hinter jeder dieser Komponenten ein bestimmtes dramaturgisches Modell steckte, welches in der lebhaftesten Wechselbeziehung zur Schauspielkunst zu betrachten ist. Die drei Modelle seien im Folgenden kurz umschrieben.

  • Das dramatische Modell: Im klassischen Sinne bestimmen Konflikte zwischen Figuren den Fortgang der Handlung. Das Handeln wird als stark betrachtet, weil Widerstände überwunden werden müssen und Entscheidungen zu treffen sind. Stanislawski hat dieses Modell seiner Etüdenarbeit zugrunde gelegt. Spannenderweise haben die Kontrahenten Druskat und Stephan solche Konflikte nicht. Sie sind und bleiben gute Freunde. Diverse Streitereien sorgen zwar für kurze emotionale Aufwallungen – haben aber wenig bis keine Konsequenzen auf das Verhältnis der Beiden. Druskat und Stephan waren und bleiben Freunde. Ihr Konflikt spielt sich ausschließlich auf der weltanschaulich-moralischen Ebene ab. So finden wir interpersonell ein merkwürdig undramatisches Geschehen. Der einzige Konflikt, den wir im dramatischen Sinn als relevant betrachten können, ist der der Hauptfigur mit seiner eigenen Vergangenheit – das Bestreben Druskats, seine persönliche Schuld durch edles Handeln auszulöschen. Vielleicht ist dies die Ursache für den oft nach innen gerichteten Blick von Hilmar Thate. Immerhin hat seine Figur mit anderen Menschen wenig, mit sich selbst aber alles abzuhandeln.
  • Das „epische“ Modell: Das Wort „episch“ steht in Anführungszeichen, weil ich Brecht inzwischen anders verstehe, als es zu dieser Zeit üblich war. Damals stand Brecht beinahe synonym für den Stil einer Sachlichkeit, einer gewissen emotionalen Distanz und einer heftigen Abneigung dem Psychologisieren gegenüber. Sowohl der Art, in der viele Dialoge geschrieben worden sind, als auch dem sehr unterkühlten Spiel vieler Schauspieler finde ich dieses Verständnis von Brecht wieder – aus heutiger Sicht erscheinen viele Figuren nahezu versteinert. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass die Sachlichkeit nicht in jedem Fall Distanz und Gefühlskälte beim Zuschauer hervorruft. Die Schauspielerin der Irene, Angelica Domröse, deren Spiel mich über weite Strecken unberührt gelassen hat, erreichte mich in dem Moment, als sie feststellte, dass ihre unheilbare Krankheit zurückgekehrt ist und sie bald sterben wird. Sie sagte in dem Moment ganz sachlich „Schade.“ Auf den folgenden Dialog über ihr baldiges Ableben hätte ich gern verzichtet: er erreichte die Größe dieses „Schade.“ nicht mehr. Natürlich gibt es in den Kontrahenten Druskat und Stephan zwei bemerkenswerte Ausnahmen. Thate kann durch die Konfliktlage seiner Figur gar nicht sachlich bleiben. Krugs Eigenart als Schauspieler lässt ihn immer wieder dramatisch agieren. Er ist der einzige, der im Dialog wirklich den Partner meint und in vielen Sätzen die Intention spüren lässt, auf seine Mitmenschen einzuwirken. Wahrscheinlich wirkt er dadurch auch so natürlich, und möglicherweise ist diese Eigenart auch für den Kultstatus verantwortlich, den seine Schauspielkunst in der DDR genoss. Seine Figuren wurden immer als menschlich nachvollziehbar empfunden, selbst in der Satire.
  • Das deklamatorische Modell: Ich glaube, dass die Traditionen des repräsentativ-deklamatorischen Theaters viel länger auf die dramatische Kunst wirkten, als es den meisten Künstlern bewusst gewesen ist – selbst heute noch können wir sie bemerken. Im Drehbuch des DANIEL DRUSKAT finden wir jede Menge Dialoge, deren Sätze sich nicht zwangsläufig im dramatischen Sinn an den Partner richten, sondern eher als Formulierung von Standpunkten zu begreifen sind. In jedem der Filme werden wir auch Zeugen vieler Monologe zu verschiedenen Themen, welche nicht der Auseinandersetzung dienen, sondern Ideen der Figuren versinnlichen sollen. Es ist dies so eine Durchdringung des feudalen Theaters der Ideen und bürgerlicher Menschendarstellung, wie sie Rötscher im 19. Jahrhundert propagierte. So kommt es, dass auch Dialoge mitunter wie aufeinanderfolgende kurze Monologe wirken, die sich zwar thematisch, nicht aber dramatisch aufeinander beziehen. Man könnte viele der Szenen auch in einem Tableau auf der Bühne präsentieren, dessen Figuren sich beim Sprechen nicht unbedingt ansehen müssen.

Für denjenigen Zuschauer, der sich auf die Zeitreise einlassen möchte, ist DANIEL DRUSKAT ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich verschiedene dramaturgische Modelle und die damit verbundenen Schauspielstile wechselseitig durchdringen.

Kultur vs Ideologie (3)

Um mich etwas klarer auszudrücken, werde ich in diesem Beitrag weniger über Kunst und mehr über das Leben sprechen.

Gerade in den letzten Jahren hat sich in der Frage des Umganges mit Transpersonen eine Entwicklung manifestiert, welche mir die Differenz zwischen Kultur und Ideologie besonders eindrucksvoll vor Augen geführt hat.

Ich möchte auf der Seite der Kultur beginnen, der kulturellen Wurzeln also, die meine Werte geprägt haben. Neben allgemeinen abendländischen Einflüssen, nach denen jeder Mensch unabhängig von seiner Person gleiche Rechte haben sollte und Konflikte zivilisiert und ohne Gewalt gelöst werden sollten, steht für mich ein deutsches Sprichwort für einen kulturellen Wert bürgerlicher Gesellschaften: „Jeder Mensch ist seines Glückes Schmied.“ Danach sollte jeder Mensch über den individuellen Weg zu seinem Glück selbst entscheiden und in dieser Entscheidung auch respektiert werden. Dies steht für mich im Gegensatz zu Kulturen, in denen Lebenswege durch Staat, Religion oder Tradition reglementiert werden. Dabei glaube ich nicht, dass meine Kultur besser sei als andere – sie hat jedoch sowohl meine Werte als auch meine biographischen Entscheidungen wesentlich beeinflusst. Und auf Grund dieser meiner kulturellen Prägung ist es für mich selbstverständlich, biographische Entscheidungen meiner Mitmenschen auch dann zu respektieren, wenn ich selbst sie ganz anders treffen würde. Wenn mich also ein Mensch, den ich bisher als Klaus Dieter kenne, mich bittet, ihn ab sofort Klara zu nennen und weibliche Pronomen zu benutzen, werde ich diesem Wunsch aus Respekt gern nachkommen.

Das ist, wie viele Menschen einwenden werden, nicht immer typisch deutsches Verhalten. Zu meiner kulturellen Prägung gehören neben dem Elternhaus auch noch der Freundeskreis meiner Jugend und mein Berufsweg an Theatern, in denen selbst in der DDR eine größere Freiheit bestand, sich individuell auszudrücken. Das sozial stark reglementierte Umfeld des Dorfes, in dem ich aufwuchs, stieß mich so ab, dass ich den Weg in die größeren Städte und auch in andere Länder suchte. Ich bin sicher, dass die Lektüre von Karl May und Alexandre Dumas diese Sehnsucht nach individueller Selbstverwirklichung bestärkt hat. Während meiner Jugend habe ich oft Brecht für sein unkonventionelles Verhalten in Augsburg beneidet. In den großen Städten und im Ausland lernte ich Menschen mit einer ähnlichen Sehnsucht kennen, die mich auch mit geprägt haben.

Kulturelle Prägungen und Verwurzelungen stellen sich also als ein sehr feines Geflecht verschiedener Lebensumstände und auch konsumierter Kunst dar. Sie sorgen dafür, dass mir gewisse Werte wie eine „zweite Natur“ vorkommen, die ich selbst nicht gut von meinen Instinkten unterscheiden kann und deren Genesis nur schwer zu rekonstruieren ist. Wenn also ein Mensch, der in meiner Wahrnehmung einem Manne gleicht, mich bittet, ihn als Frau zu adressieren, habe ich ein natürliches Bedürfnis, diesem Wunsch zu entsprechen, weil er meinem Mitmenschen wichtig zu sein scheint. Das ist in mir eine sehr nachhaltige kulturelle Prägung. Ich hätte mich sicher auch vor dreißig Jahren ähnlich verhalten.

Kulturelle Prägungen allerdings sind konservativ, selbst wenn sie unkonventionelle Lebensentwürfe respektieren. Sie sind das Resultat sehr langfristiger Prozesse und taugen selten für revolutionäre Umgestaltungen. Ideologien hingegen orientieren sich viel mehr aufs Tagesgeschäft, ihre Inhalte können sehr schnell angepasst werden, und die Feindmarkierung erlaubt das Maß an Aggression, welches für eine revolutionäre Umgestaltung hilfreich scheint. Ideologie muss daher auch einfach und klar sein, damit man sie sofort verstehen und umsetzen kann.

In der Frage des Umganges mit Transpersonen erfüllt die moderne Ideologie beide Anforderungen. Der Satz „Transfrauen sind Frauen.“ wird häufig mit dem geschriebenen „Punkt.“ ergänzt, um klarzumachen, dass dieses Dogma keinen Widerspruch duldet. Es ist ein Dogma, welches sogar die Biologie erobern möchte und mit großer Aggressivität durchgesetzt wird. Es erlaubt eine unkomplizierte Feindmarkierung. Wer dem Dogma nicht wörtlich folgt, ist ein böser Mensch, der Transpersonen ihre Existenz abspricht. Seine Menschenverachtung rechtfertigt auch drastische Maßnehmen gehen ihn.

Kultur vs Ideologie (2)

Ich möchte den Unterschied zwischen Kultur und Ideologie jetzt einmal an der Serie MAD MEN beschreiben, die ich bereits an anderer Stelle lobend erwähnt hatte.

Die Serie beginnt Ende der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Es war dies eine Zeit, als noch patriarchale Verhältnisse bestanden, sich das Blatt aber weiter zugunsten der Frauen wendete. Ohne anklagende Untertöne erleben wir als Zuschauer das traditionelle Verhältnis von Männern und Frauen in vielen alltäglichen Situationen. Die Männer erscheinen nicht als bösartig, werden oft sogar als liebevoll gezeichnet. Sie wirken eher gedankenlos, stellen die Normalität der bestehenden Verhältnisse nicht in Frage. Einige wenige Frauen fordern dies heraus – jedoch nicht, indem sie große anklagende Reden über das Patriarchat halten, sondern für sich einen unabhängigen Lebensstil verteidigen. Es sind aber wenige. Die meisten Frauen akzeptieren die Normalität ihrer Position.

Fast forward. Heute, im Jahr 2024, ist die Gleichberechtigung der Frauen Bestandteil unserer Kultur geworden – und im Prinzip war sie dies auch 1999, als das erste Drehbuch geschrieben wurde. Dieser kulturelle Wert bestimmt die Perspektive, mit der die Geschehnisse der Vergangenheit betrachtet werden. Das Patriarchat erscheint als ein kulturelles System, in dem sich die meisten Menschen eingerichtet haben. Niemand ist hier besonders edel oder bösartig. Die Benachteiligung und Diskriminierung der Frauen erleben wir in einem Bombardement alltäglicher Handlungen. Die Normalität des Geschehens genügt, um Befremden zu erzeugen – die Macher der Serie haben dies einkalkuliert, so dass der Zuschauer in der Validität modernerer kultureller Werte bestätigt wird. Diese kommen sozusagen organisch zum Vorschein, in dem die Geschichten erzählt werden – sie muss nicht ständig explizit betont werden.

Vergleichende Dramaturgie ist ein wunderbares Instrument der Analyse. Sehen wir uns stattdessen die Serie SHE-HULK an, so können wir begreifen, wie primitiv und unkünstlerisch Ideologisierung wirken kann. Finden wir in MAD MEN kompetente Männer, die durchaus mit sich reden lassen, werden wir in SHE-HULK mit inkompetenten Tyrannen konfrontiert, welche die kompetenten und starken Frauen mit Gewalt an ihrem Platz halten wollen. Wir lernen in Werken wie SHE-HULK zwei wesentliche Elemente ideologisierter Kunst kennen: eindeutige Feindmarkierung und explizite ideologische Bekenntnisse.

Wer sich ein wenig mit Maos Kulturrevolution befasst hat wird beide Elemente bereits kennengelernt haben: der böse Feind, den man für das Leid vieler Unschuldiger verantwortlich machen kann und das Signalisieren der Treue zum aktuellen Stand der Ideologie. Gerade der letzte Teil ist enorm wichtig. Die Formulierung der ideologischen Pflichtübung, welche Worte jetzt benutzt werden müssen und welche keinesfalls mehr benutzt werden dürfen, ist ein überlebenswichtiger Faktor, an welchem sich eindeutig die ideologische Zuverlässigkeit des jeweiligen Akteurs ablesen lässt.

Maos Kulturrevolution kann auch als ein Krieg der Symbole verstanden werden. Indem in SHE-HULK der klassische, „patriarchalische“ Hulk vom Sockel gestürzt wird, soll ein feministisches Symbol an seine Stelle gesetzt werden. Dies ist ebenso ein Krieg der Symbole wie die Ablösung des generischen Maskulinums das sprachliche Symbol des Patriarchats zerschmettern soll. Die Bekenntnis zu Symbolen der „neuen Zeit“, die Vernichtung der Symbole der „alten Zeit“ ist hierbei nicht nur als magisches Denken zu verstehen. Es kann auch als ein Sonderfall eines eindeutigen ideologischen Bekenntnisses gewertet werden, welches signalisiert, dass man auf der „richtigen“ Seite steht, also zu den „Guten“ gehört.

MAD MEN zerstört weder alte Symbole, noch werden neue an ihre Stelle gesetzt. Durch die Erzählweise scheint die kulturelle Sicht der Macher immer wieder durch – in den Geschichten der Hauptfiguren erleben wir die Erosion des Patriarchats als historischen Prozess, ohne mit Uraniavorträgen, Feindmarkierungen und ideologischen Eingriffen in die Symbole eine bestimmte politische Haltung in den Kopf gehämmert zu bekommen.

Kultur vs Ideologie (1)

Wenn Autoren, Regisseure oder Schauspieler über die message ihrer Kunstprodukte besorgt sind, erlebe ich häufig Reden über Kunst statt Arbeit an der Kunst. Diese Verschiebung der Aktivitäten erkläre ich mir mit dem fundamentalen Unterschied, welchen ich zwischen Kultur und Ideologie ausmache und über den ich die nächsten Beiträge schreiben werde.

Ein Kunstwerk lässt sich trefflich – und davon kann ich als Dramaturg ein schönes Liedchen singen – ideologiekritisch analysieren. Meist haben wir einen historischen oder starken weltanschaulichen Abstand zum Werk, der uns eine solche Analyse ermöglicht. Der schaffende Künstler allerdings sollte sich vor diesen Analysen hüten. Macht er sich diesen kritischen weltanschaulichen Abstand zu eigen, öffnet er einer Selbstzensur die Tore, mit der er seine eigene Kunst irreparabel beschädigt.

Es ist seit einiger Zeit in die Mode gekommen, dass Firmen, die kreative Inhalte produzieren, ideologische Berater engagieren. Sie treten uns entweder als Beraterfirmen wie SweetBaby oder sogenannte sensitivity reader entgegen. Für Investoren soll eine derartige ideologische Beratung attraktiver wirken, erhöht einen bestimmten „score“ und damit die Chance auf Finanzierung. Das – und natürlich auch ein gewisser öffentlicher Druck – verführt Künstler nicht selten dazu, vermutete Standpunkte einer solchen ideologischen Beratung in vorauseilendem Gehorsam zum Teil ihres kreativen Prozesses zu machen. Die Gründe sehe ich einerseits in der Hoffnung auf bessere Erfolgschancen und andererseits darin, dass die Weltanschauung solcher ideologischen Beratungen geteilt wird.

In der DDR, deren Kulturpolitik sich immer wieder ideologisch einzumischen suchte, hatten wir zwei Arten von Künstlern, die die marxistische Weltanschauung teilten. Die einen sahen sich derart als Diener der Partei, dass man deren Ideologeme nahezu ungefiltert in ihrer Kunst wiederfand. „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“ von Fürnberg oder „Sag mir, wo du stehst“ von Hartmut König sind faszinierende Beispiele eines von Ideologie dominierten Kunstverständnisses. Andere Künstler fühlten die Liebe zum Kommunismus, ohne sich zum ideologischen Sprachrohr der herrschenden Partei zu machen. Brecht oder Heiner Müller teilten zwar kulturelle und weltanschauliche Werte mit den Kommunisten, gerieten aber immer wieder in Konflikte mit dem System. Und jetzt raten Sie einmal, lieber Leser, wessen Kunstwerke die Zeiten überdauert haben.

Unterrichte ich Schauspieler oder Drehbuchautoren, warne ich vor Selbstzensur, also davor, die Arbeit ideologischer (oder anderer moralischer) Berater mit zu machen. Das sind Filtersysteme, welche Firmen eingebaut haben und die in den Köpfen der Künstler nichts zu suchen haben.

Kulturelle Werte werden immer in unseren Kunstwerken sichtbar werden. Das können wir nicht verhindern. Wir müssen es allerdings auch nicht als ideologische Pflichtübung forcieren, indem wir uns übertriebene Sorgen um die message machen.

Fundamente: organisches Produzieren beim Schreiben und Spielen

Während meiner Arbeiten im Bereich Stoffentwicklung bin ich sehr oft zu den Ausgangspunkten einer Geschichte zurückgekehrt, wenn im Plot oder der Figurengestaltung Unstimmigkeiten zu bemerken waren. Dieses Vorgehen war meist erfolgreich und half sogar bei Schwierigkeiten, welche erst im letzten Drittel eines Drehbuches oder Theaterstücks bemerkbar wurden. Der Versuch, diese Erfahrung zu verallgemeinern, zog meinen Geist verständlicherweise zu dramaturgischer Terminologie. So gelangte ich zu dem Schluss, dass eine gelungene Exposition das Fundament einer guten Geschichte sei.

Von dieser Idee war ich derart begeistert, dass ich sie mit einem befreundeten Redakteur diskutieren musste, der in seinem Leben tausende Drehbücher gelesen haben mag. Der zuckte bei meinem Loblied auf gelungene Expositionen zusammen und versicherte mir, eine Reihe schlechter Drehbücher gelesen zu haben, die eine nahezu manische Sorgfalt auf ihre Expositionen verwendet hatten. Aus diesem Gespräch zog ich zwei Lehren:

  • Ich verstand unter einer gelungenen Exposition wahrscheinlich etwas ganz anderes als mein Freund. Also suchte ich einen anderen Begriff für das was er mir beschrieben hatte und fand die beflissene Exposition. Eine solche will sicherstellen, dass jeder Leser (oder Zuschauer) die detaillierte Vorarbeit der Autoren goutieren kann, dass klar ist: wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und hoffen auf die Note 1. Das Publikum derartiger Expositionen erlebt einen Bombenteppich an Informationen, die zwar nicht interessant, aber nahezu vollständig sind. Wir erfahren Vieles, was keine Relevanz für die Geschichte hat – erzählerisch also komplett überflüssig ist.
  • Weiterhin wurde mir klar, dass eine gelungene Exposition zwar das Interesse der Zuschauer weckt, nicht aber gleichzusetzen ist mit dem, was ich als obligatorisches Element einer guten Geschichte erfahren hatte. Ich musste also nach einer anderen Verallgemeinerung meiner Erfahrungen suchen.

Glücklicherweise habe ich mehr als 30 Jahre lang Schauspieler unterrichtet. Die Etüden während der Grundlagenarbeit gleichen im kreativen Prozess sehr einer Stoffentwicklung. Es ist mir noch nie eingefallen, den Begriff Exposition in diesem Zusammenhang zu verwenden, da er für die schauspielerische Arbeit keinerlei Relevanz besitzt. Was aber sowohl in der schauspielerischer Arbeit als auch beim Schreiben von Drehbüchern/Theaterstücken relevant ist, sind die gegebenen Umstände – in Deutschland besser bekannt als die 5-W-Fragen. Bei beflissenen Studenten konnte man dasselbe erleben wie bei den Autoren beflissener Expositionen. Sie setzten sich unter Druck, dass möglichst all ihre Vorbereitung während ihrer Etüde klar sichtbar sein sollte. In beiden Fällen ist die Beflissenheit das Ende der Kreativität, welche gute Ideen schon im Keim erstickt. Umgekehrt hingegen sehen wir eine unangenehme Nebenwirkung der Vorstellung, eine Vorbereitung (also gegebene Umstände, Hintergründe und Vorgeschichten) müssten eins zu eins in den Szenen ausgedrückt werden: was nicht dargestellt oder in Handlung und Dialog gepackt werden kann, was also dem Publikum nicht sichtbar ist, müsse man auch nicht vorbereiten.

Hemingway, der große Erzähler, verglich Geschichten mit einem Eisberg: der größte Teil davon ist nicht sichtbar. Als erzählende Künstler – das schließt Schauspieler und Drehbuchautoren mit ein – müssen wir Vieles erarbeiten, was nicht direkt sichtbar ist, jedoch das Fundament unserer Geschichte bildet. Tun wir dies nicht, gerät unser Eisberg aus dem Gleichgewicht und muss mit willkürlichen Kunstgriffen in seiner Position gehalten werden.

Der aufmerksame Rezipient wird während eines Filmes Fragen stellen, welche darauf hinweisen, dass das erzählerische Werk keine Basis hat und das Sichtbare deutliche Anzeichen der Willkür aufweist. Spannenderweise lässt sich eine solche Willkür auch bei Schauspielern beobachten. Sätze wie: „Das behaupten wir jetzt einfach“ sind deutliche Hinweise auf ein solches Vorgehen. Stanislawski hat in seinen späten Jahren die Methode der aktiven Analyse erfunden, um einer solchen Willkür vorzubeugen. Seine Schauspieler erarbeiteten sich über Etüden ein Fundament aus gegebenen Umständen, welches sie lebendig und organisch zu dem führt, was der Autor in eine Textform gegossen hat. Ein sehr großer Teil ist dem Zuschauer nicht direkt sichtbar – er spürt jedoch, dass die Teile, welche er sieht, durch einen unsichtbaren Hintergrund organisch zusammenpassen. Bei Drehbüchern sollte es ein ähnliches Fundament geben, was die erzählten Begebenheiten organisch verknüpft.

MAD MEN – mein erstes positives Beispiel

Nachdem ich zur Genüge über eine deutsche Serie gejammert habe, ist in mir das Bedürfnis nach einem positiven Beispiel aufgekeimt. Während eines Drehbuchkurses, den ich kürzlich abgehalten habe, ist mir aufgefallen, dass die Kursteilnehmer vorgestellte dramaturgische Modelle vor allem anhand positiver Beispiele begreifen konnten. Ja, in der Reflexion darüber, von welchen Positionen aus ich kritisiere, ist mir aufgefallen, dass meine Wertvorstellungen über Jahrzehnte hin von gut geschriebenen Theaterstücken und Drehbüchern geprägt worden sind. Meine Angewohnheit, Texte, die mich nicht interessieren, recht schnell beiseite zu legen beziehungsweise Filme und Serien, die schlecht geschrieben und/oder gespielt sind, nach wenigen Minuten nicht mehr weiter anzuschauen, scheint in meinem Gehirn die Mustererkennung für gute Qualität verbessert zu haben. Aus dieser Erfahrung heraus rate ich jedem angehenden Künstler an, das Gleiche zu tun. Natürlich lässt sich sowohl aus den Fehlern anderer und vor allem auch aus eigenen Fehlern eine Menge lernen – der Geschmack jedoch (ein anderes Wort für Mustererkennung guter Qualität) wird durch Vorbilder und nicht durch abschreckende Beispiele gebildet.

Ich habe mir also nach vielen Jahren noch einmal den Piloten der Serie MAD MAN angeschaut. Für heute beschränke ich mich auf die Eröffnung. Wir sehen den Protagonisten, Don Draper, in einer Bar. Er wirkt angespannt, scheint zu arbeiten und beginnt das Gespräch mit einem Kellner über das Rauchen und verschiedene Zigarettenmarken. Es wird deutlich, dass er dringend herausfinden möchte, was potenzielle Kunden dazu bewegen könnte, eine bestimmte Marke zu rauchen. Dabei scheint er nach jedem Strohhalm zu greifen, so, als wäre der Druck auf ihn ein erheblicher. In dieser Szene erhalte ich die Informationen durch szenische Handlung. Er will etwas erreichen, eine zündende Werbeidee. Und aus seinem Verhalten wird uns klar, dass er sein Ziel in dieser Szene nicht erreicht hat. Verständlich also, dass er eine Geliebte aufsucht, bei der er mit ganz anderer Offenheit über seine Sorgen sprechen kann. Über den Interessenkonflikt: er will mütterliche Führung, sie unverbindlichen Sex, entsteht ein natürlicher Dialog, aus dem deutlich wird, dass er eine Menge zu verlieren hat, wenn ihm nichts Gescheites einfällt – seine dominante Position in einer Werbefirma. Das verzweifelte Ringen des Protagonisten um die Erreichung seines Ziels (eine Verkaufsidee, mit der er selbstbewusst in ein Kundengespräch gehen kann) lässt uns an seiner Geschichte teilhaben. Dass er dabei sympathisch wirkt, hilft natürlich unserer Anteilnahme. Wir sehen zu Beginn, wie kameradschaftlich er sich mit einem schwarzen Kellner unterhält und erfahren erst am Ende des Piloten, dass er eigentlich verheiratet ist. Einige seiner düsteren Seiten lernen wir im Verlauf des Piloten noch kennen. Zu diesem Zeitpunkt jedoch haben wir uns schon auf ihn eingelassen, so dass die Schattenseiten des Charakters die Figur für uns interessant werden lassen statt uns abzustoßen.

Wir lernen aus dieser Eröffnung:

  • dass sich Dialoge natürlich ergeben, wenn eine Figur mit ihnen ein bestimmtes Ziel verfolgt.
  • dass es spannender ist, wenn die Erreichung des Ziels auf Schwierigkeiten stößt.
  • dass wir mehr Anteil an Figuren nehmen, an deren Streben und Kämpfen wir teilhaben.
  • dass es wichtig ist, Begebenheiten so zu verknüpfen, dass in unserem Kopf eine Geschichte entstehen kann.
  • dass das Timing für die Exposition problematischer Seiten einer Figur essentiell ist, damit die uns interessiert und nicht abstößt.

Kritik der eigenen Analyse (BABYLON BERLIN 4)

Ein Leichtes ist es, vergangene Fehler in einem Blog zu korrigieren und vorzugeben, sie wären nie gemacht worden. Der hierdurch beabsichtigte Anschein der Genialität allerdings ist ebenso langweilig wie unwissenschaftlich.

Die wissenschaftliche Methode besteht unter anderem darin, bereits Erkanntes in Frage zu stellen und so zu Neuem zu gelangen. Eine dramaturgische Analyse sollte sich diesem Maßstab ebenso stellen.

Meine Fehler, welche ich hier kritisieren möchte, fallen in die Kategorie false memory. Dinge, die wir erinnern, stimmen nicht immer mit der Realität, der Welt außerhalb der eigenen Gedanken, überein. Dies ist ein alltäglicher psychischer Vorgang, unter welchem natürlich auch eine dramaturgische Analyse leiden kann. Während meiner bisherigen Analyse bin ich auch einige Male dem false memory zum Opfer gefallen – die Gründe für meine falschen Erinnerungen sind durch aus spannend und, wie ich finde, dramaturgisch höchst relevant.

So hatte ich beispielsweise behauptet, Charlotte hätte sich ihres Harndranges nicht entledigen können, bevor sie das Stöhnen des zitternden Kommissars bemerkt. Zu meiner Überraschung bemerkte ich beim wiederholten Ansehen der Szene, dass sie sich auf die Toilette setzt, bevor sie das Elend in ihrer Nachbarkabine wahrnimmt. Das, lieber Leser, hatte ich komplett vergessen! Der Grund dafür mag darin liegen, dass Charlotte kein Zeichen der Entspannung zeigt, nachdem sie sich aufs Klo gesetzt hat und auch kein Plätschern zu vernehmen ist. Dies mag eine Kleinigkeit sein, hat aber offenbar in meiner Erinnerung den Eindruck hinterlassen, sie hätte nicht gepinkelt. Dramaturgisch von Belang erscheint es mir, weil es Einfluss auf die wahrgenommene Story hat, denn auch diese kann sich von dem unterscheiden, was die Autoren beabsichtigt haben.

Während des erneuten Ansehens sind mir dann noch weitere Details aufgefallen: Charlotte entscheidet sich nicht sichtbar, dem Kabinennachbarn zu helfen, sondern tut es einfach. In Anbetracht des sittlichen Anspruches, der damals, und vor allem in der Polizei, geherrscht hat, war es vielleicht doch nicht eine solche Lappalie, als Frau in einer Männertoilette zu sitzen. Wenig später erfahren wir in einem Dialog mit Rath, dass sie im Gegensatz zu diesem genau weiß, dass es im Präsidium 52 Toiletten für Herren und nur 5 für Frauen gibt. Sie kennt also die genaue Anzahl der jeweiligen Toiletten und weiß nicht, wo die wenigen für ihr Geschlecht zu finden sind? Die Vorgeschichte zu diesem rein lexikalischen Wissen würde mich brennend interessieren. Stand das in einem Informationsblatt, das sie auswendig gelernt hat? Oder konnte sie Kolleginnen belauschen, die sich darüber unterhielten? Und nach dieser Information hat sie sich nicht dafür interessiert, wo diese 5 Toiletten zu finden sind? Sie hat doch nach dem was ich weiß, ihre Arbeit bei der Polizei nicht erst vor 5 Minuten begonnen, sondern wenigstens vor einem Tag. Musste sie also bisher nicht? Ach ja und am Ende der Szene hätte ich mir gewünscht zu sehen, wie es Gereon Rath gelingt, unbemerkt mit vollgepisster Hose durch das Präsidium zu kommen. Um dieses Vergnügen wurde ich leider gebracht.

Was ich also aus meinem false memory und den neu entdeckten Details lernen konnte, ist die Bedeutung der Fabeldefinition des alten Aristoteles : Die Verknüpfung der Begebenheiten. Die vielen Begebenheiten, die mir in BABYLON BERLIN geboten werden, sind nicht wirklich miteinander verknüpft. Das Drehbuch zählt Ereignisse auferzählt aber keine Story (Fabel).

Ein anderes false memory hat die wahrgenommene Geschichte beeinflusst. Mehrfach schimpfte ich über die – in meiner Erinnerung – endlosen Vorträge Wolters über die Kriegszitterer, welche Rath im Auto über sich ergehen lassen muss. Beim erneuten (diesmal dem dritten) Ansehen bemerkte ich, dass Wolter nur wenige Sätze spricht und die Sequenz gar nicht so lang ist wie in meiner Erinnerung. Ich schreibe dies zwei Faktoren zu. Zum Ersten dient die Sequenz der reinen Information des Publikums über Kriegszitterer und beinhaltet keinen szenischen Konflikt, der ausgefochten werden müsste. So gesehen ist jedes gesprochene Wort überflüssig. Die Parallelmontage mit dem Weg Charlottes ins Präsidium verlängert die erlebte Zeit genau um die Dauer dieser Zwischenszenen.

Und einen dritten Fehler meinerseits möchte ich beichten. Ich hatte kritisiert, das Rath gleich zu Beginn seiner Arbeit in Berlin einen Hypnotherapeuten gefunden hatte. Beim erneuten Ansehen der Eröffnungsszene des Piloten stellte ich fest, dass die gezeigten Rückblenden Ereignisse der ersten Staffel enthielten, die ich ja noch gar nicht gesehen hatte. In der Rückschau also könnte Rath den Therapeuten erst nach den Begebenheiten der ersten Staffel gefunden haben. Wie aber hätte ich das zu Beginn des Piloten einordnen können?