Vers, ideale und intendierte Aufführung

Bleiben wir noch ein wenig beim Monolog der Helena. Alles was ich über das reflektierte Mitteilen innerer Prozesse im Vorigen geschrieben habe, trifft streng genommen nur auf diejenigen Teile des Monologes zu, dessen Verse eine hohe Regelmäßigkeit aufweisen. Diese Regelmäßigkeit vermittelt eine gewisse Reflektiertheit, welche meine bisherigen Gedanken zur idealen Aufführung des Monologes unterstreicht. Die Verse haben eine Leichtigkeit und Eleganz und erschweren dadurch die Vorstellung der inneren Aufgewühltheit oder der Unfähigkeit, vernünftig zu denken. Nehme ich diese Regelmäßigkeit als Grundrauschen des Monologes an, so könnten mir rhythmische Abweichungen einen Hinweis auf eine mögliche ideale Aufführung geben.

Regelmäßigkeit erleben wir in Versen wie: „And therefore is wing’d Cupid painted blind.“ Diese Gedanken scheinen Helena so klar und bar jeden Zweifels, dass sie wie Wasser von ihren Lippen perlen können. Der bereits zitierte Kalauer „How happy some o’er other some can be!“ impliziert beim Sprechen eine kleine Pause zwischen „o’er“ und „other“. Diese unterstreicht nicht nur den Wortwitz, welcher aus der verschiedenen Anordnung der Worte „some“ und „other“ entsteht – das Wortspiel selbst könnte auch als vorübergehende leichte geistige Verwirrung der Sprecherin gespielt werden.

Die Durchbrechung der Regelmäßigkeit im Rhythmus der Verse kann unsere Phantasie anregen. Sie ist eine der Spuren, welche eine ideale Aufführung hinterlassen hat. Wir können vermuten, dass Shakespeares Schauspieler die glatte Oberfläche wohl formulierter Gedanken auf diese Weise durchbrochen haben – so wie kleine Wellen in einem stillen Gewässer etwas vermuten lassen, das ein springender Fisch oder ein Kiesel sein könnte. Ich bin leider nicht genug in die Feinheiten Elisabethanischer Schauspielkunst eingedrungen, um mich, metaphorisch gesprochen, für Fisch oder Kiesel entscheiden zu können. Ich sehe aber das Potenzial dieser kleinen metaphorischen Wellen für eine intendierte Aufführung.

Hier ein Beispiel:
„Through Athens I am thought as fair as she.
But what of that? Demetrius thinks not so;
He will not know what all but he do know;“

Im ersten dieser Verse finde ich eine kleine Kräuselung im Rhythmus: „Through Athens“ sticht hervor, bevor sich der Vers wieder der Regelmäßigkeit bequemt. In meinem (deutschen) Kopf höre ich: „Ganz Athen (!!!!!!!!) weiß, dass ich genauso schön wie sie bin. Spontan fallen mir dazu zwei schauspielerische Gestaltungsmöglichkeiten ein. Die erste ist eine rhetorische Hervorhebung, welche für die Zuschauer betont, dass eben Ganz Athen von der Schönheit Helenas begeistert ist. Die zweite gibt der Schauspielerin eine kurze Gelegenheit auszurasten, bevor sie sich in der Regelmäßigkeit ihrer Worte wieder einkriegt. Fisch oder Kiesel eben können eine solche Kräuselung verursachen. Die Ruhe im Rhythmus aber ist von kurzer Dauer, denn Helena fährt fort:
„And as he errs, doting on Hermia’s eyes,“
Das Komma trennt im Vers zwei Hebungen, was das Wort „doting“ hervorhebt und dadurch eben einen Schwerpunkt darauf legt, dass Demetrius vernarrt in Hermia ist. Auch hier bieten sich der Schauspielerin die Möglichkeit, ihre vernünftigen Darlegungen mit einer emotionalen Spitze zu durchbrechen.

Wahrscheinlich ist es etwas viel von einem Dramaturgen verlangt, das ganze Stück aus diese Weise aufzubrechen und eine Gebrauchsanweisung für die Verssprache zu verfassen. Wenn sich Schauspieler darauf einlassen, selbst einmal zu forschen, wird sich ihnen ein Meer von Gestaltungsmöglichkeiten erschließen. Dramaturgen können aber mit einer gewissen Sorgfalt auf die Übersetzung achten – also diejenige, welche der intendierten Aufführung der Regie am besten ziemt.

Betrachten wir kurz die besprochenen Verse in Schlegels Übersetzung:
„Wie kann das Glück so wunderlich doch schalten!
Ich werde für so schön wie sie gehalten.
Was hilft es mir, solang’ Demetrius
Nicht wissen will, was jeder wissen muß?
Wie Wahn ihn zwingt, an Hermias Blick zu hangen,“
Beim lauten Sprechen fällt die konsequente Regelmäßigkeit im Rhythmus auf. Schlegels ideale Aufführung unterscheidet sich deutlich von der Shakespeares und zwingt die Schauspielerin viel mehr in die Bahnen der Vernunft. Kein Wortspiel und kein Kräuseln der glatten Oberfläche laden uns ein, nach Fischen oder Kieseln zu suchen…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert