Will ich die ideale Aufführung eines Theaterstückes aus längst vergangenen Zeiten herausfinden, so ist es eine gute Idee, die Aufführungskonventionen jener Zeiten vor mein geistiges Auge zu stellen und so einen gewissen Kontext für die sichtbaren Texte zu schaffen.
Zu Shakespeares Zeiten, das ist recht sicher anzunehmen, dürfte die Idee einer vierten Wand im Theater keine Rolle gespielt haben. Figuren kommunizierten nicht nur miteinander, sondern auch mit dem Publikum. Monologe spielten eine besondere erzählerische Rolle: sie informierten das Publikum nicht nur auf eine sehr effektive Art und Weise – die sprechende Figur konnte die Zuschauer zudem auf ihre Lage und ihre Motivationen einstimmen. Dem Geschmack der Zeit entsprach es außerdem, über irrationale emotionale Prozesse durch den Filter der Vernunft zu sprechen. Solche Prozesse wurden in einem Monolog nicht gezeigt. Sie wurden reflektiert vorgetragen. An dem Schnittpunkt zwischen Emotion und Vernunft entsteht bei Shakespeare die ihm eigene Poesie. Auch in vermutlich höchster Erregung, in Momenten komplett irrationaler Entscheidungen können die Figuren mit gebildeten Metaphern brillieren und haben genug geistige Kapazität für Kalauer. Helenas Monolog beginnt mit einem solchen: „How happy some o’er other some can be!“
Und Helenas Verfassung ist im Moment ihres ersten Monologs unbedingt irrational zu nennen. Anstatt Hermia und Lysander fliehen zu lassen – will sie petzen! Nicht im Ansatz kommt ihr der Gedanke, dass sich ihre Chancen bei Demetrius erhöhen könnten, wenn Hermia einmal aus der Stadt ist. Dieser Umstand ist bemerkenswert, weil Helena eben diesen Gedanken kurz vorher aus Hermias Mund gehört hat. Als Zuschauer muss ich mich sehr darüber wundern. Es besteht eine gewisse erzählerische Notwendigkeit, mir zu erklären, dass die Liebe keine vernünftigen Entscheidungen trifft. Den Konventionen der Zeit entsprechend, zeigt mir Helena nicht ihren desolaten Zustand, sondern fasst ihn in wohlgesetzte Worte – so wie es Personen tun, die durchaus Herr ihrer Sinne sind.
Mit diesem Widerspruch wird sich eine moderne Inszenierung auseinandersetzen müssen. Die intendierte Aufführung könnte die Unvernunft von Helenas Entscheidung schlicht nicht zur Kenntnis nehmen und hoffen, dass sich das Publikum nicht daran stört. Sie könnte sich aber auch dafür entscheiden, die Figur der Helena in einem emotionalen Ausnahmezustand zu präsentieren, was die Schauspielerin wiederum vor Probleme mit der Sprache stellen könnte.
Oder aber man zeichnet die Figur der Helena als derart berechnend und bösartig, dass sie Hermias Glück um jeden Preis zerstören möchte. Ihr Monolog wäre dann eine Art Reinwaschung in dem Sinne: „Ich kann ja gar nichts dafür.“
Ohne Änderungen am Text (welche ja immer möglich sind) stellt die ideale Aufführung die intendierte Aufführung vor Herausforderungen, die vermutlich interessantere Lösungen zur Folge haben als die Ignoranz dessen, was die Textgestalt impliziert.