Sprache und „Gendergerechtigkeit“

Als Dramaturg muss ich mich verständlicherweise mit den Eigenheiten der Sprache beschäftigen, ist das geschriebene Wort doch das Erste, was mir entgegen lächelt, wenn ich ein neues Stück oder Drehbuch in die Finger bekomme – sei es zum Zwecke der Realisierung oder zur Stoffentwicklung. Auf meiner Suche nach einer idealen Aufführung forsche ich permanent danach, was Sprache implizieren kann und was eben auch nicht.

Dass ich das Thema der Gendergerechtigkeit in der Sprache irgendwann einmal durchdenken muss, liegt nicht nur in der Natur meines Berufes. Es liegt auch in der Natur des Milieus, in dem ich diesen Beruf ausübe. Lange, etwa 50 Jahre lang, hat es gedauert, bis die Idee des so genannten Genderns ihren Weg von avantgardistischen Eliten der Gesellschaftswissenschaften in die Köpfe der meisten Gesellschaftswissenschaftler, Künstler, Pädagogen und Journalisten gefunden hat. Sie lässt sich also auch innerhalb meines Milieus nur noch schlecht ignorieren. Es liegt ihr ein Axiom zugrunde, nach dem die Sprache unser Denken und Handeln beeinflusst. Und wie dies bei Axiomen so ist, muss dies nicht bewiesen werden und bildet die selbstverständliche Basis für alle anderen Überlegungen. Praktisch am Axiom ist es auch, dass nicht weiter untersucht werden muss, in welcher Weise die Sprache unser Denken und Handeln beeinflusst. Meiner bescheidenen Meinung nach steckt die Forschung zu diesem Thema noch in den sprichwörtlichen Kinderschuhen.

Ich möchte dieses Axiom gern in Frage stellen, da es mir nicht geeignet scheint, die komplexen Wechselwirkungen zwischen Sprechen, Denken und Handeln auch nur im Ansatz zu verstehen. Außerdem gibt es einige praktische Überlegungen, welche mich an der Sinnhaftigkeit des Axioms zweifeln lassen.

Eine davon ist das generische Maskulinum und seine Bedeutung für die Konsolidierung dessen, was als Patriarchat bezeichnet wird. Die Befürworter einer gendergerechten Sprache sind der Ansicht, dass unser generisches Maskulinum ein wichtiges Fundament des Patriarchats darstellt und dieses nur gestürzt werden kann, wenn die Pluralformen unserer Sprache mit einem Sternchen gewürzt werden. Wer sich diesem Sprachwandel widersetzt, kann dadurch leicht als Feind der Gleichberechtigung und Befürworter einer binären, heteronormativen Gesellschaft entlarvt uns gebrandmarkt werden. Für die Freund-Feind-Erkennung ist dies natürlich sehr praktisch. Man muss eben nur dazu an das genannte Axiom glauben, man muss also voraussetzen, dass es ein unzertrennbares Band zwischen den Geschlechterunterschieden in der Sprache und der Realität gibt, dass also eine enge Korrelation zwischen Geschlechtsmarkierungen in der Sprache und dem Umgang der Geschlechter miteinander in der Gesellschaft besteht. Verlassen wir einmal den engen Horizont unserer Muttersprache, so müssen wir feststellen, dass es Sprachen auf der Welt gibt, die völlig ohne Geschlechtsmarkierungen auskommen. Diese sind also auffällig genderneutral, gendergerecht und genderinklusiv. Bei allgemeiner Gültigkeit des Axioms sollten Kulturen mit einer solchen Sprache ein gerechteres und inklusiveres Verhältnis von Männern und Frauen zu Folge haben und keinen Nährboden für ein binäres und heteronormatives Gesellschaftskonzept bieten. Nun ist unglücklicherweise nicht nur das Finnische eine solche Sprache, sondern auch das Japanische und das Türkische.

Mein zweiter Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Genderns ergibt sich aus der Kritik des generischen Maskulinums selbst. Es wird behauptet, dass dieses die Frauen unsichtbarer machen würde als eine Burka. Diese abenteuerliche Schlussfolgerung ergibt sich zunächst aus einer Interpretation deutscher Pluralformen und Berufsbezeichnungen. „Die Ärzte“ wird als ausschließlicher Plural der männlichen Form interpretiert, so alle Ärztinnen unsichtbar machend. Ich möchte dieser Debatte noch eine eigene Interpretation schenken, die ich wenigstens bisher noch nirgendwo gelesen habe.

Betrachten wir einmal die Pronomen und Artikel in ihrer Pluralform, so müssen wie feststellen, dass sie auffällig der weiblichen Form gleichen. Benutze ich das Personalpronomen „sie“ oder die Possesivpronomen „ihr“ beziehungsweise „ihre“, so ist ohne Kontext nicht klar, ob ich damit eine einzelne weibliche Person (die Ärztin) oder eine Gruppe von Menschen (die Ärzte) meine. Dasselbe trifft auf den Artikel „die“ zu. Mit einer gewissen paranoiden Energie könnte ich daraus eine Theorie konstruieren, nach der die Männer durch Artikel und Pronomen unsichtbarer gemacht werden als durch eine Tarnkappe. Oder ich bin weniger paranoid und behaupte, dass die natürliche Evolution unserer Sprache auch ohne ideologische Eingriffe für einen Ausgleich gesorgt hat. Liebe Leser – auch das sind Interpretationen, die durch nichts bewiesen sind.

Wie aber sind die Ergebnisse von Studien zu verstehen, die zu belegen scheinen, dass sich Frauen und Mädchen durch das generische Maskulinum nicht gemeint fühlen? Abgesehen vom jeweiligen Design einer Studie kann ich mir vorstellen, dass es einen Effekt hat, wenn Frauen 50 Jahre lang vermittelt wird, dass sie mit dem generischen Maskulinum nicht gemeint sind. Eine so nachhaltige Agitation muss irgendwo in den Hirnen einen neuen Kontext erschaffen – nur ist dieser nicht das Resultat eines Patriarchats sondern einer Dauerbeschallung mit bestimmten Ideen.

Warum aber verwendet man so wenig Mühe darauf, das Verhältnis der Geschlechter zueinander in seiner Komplexität zu verstehen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie jeder Mensch seinen Bedürfnissen entsprechend das beste und erfüllteste Leben führen kann? Nun, erstens ist es viel einfacher, ein Sternchen in Pluralformen zu quetschen und zweitens wurde das Denken fortschrittlicher Menschen im Abendland durch einen Mann und sein Werk in einer Weise geprägt, die auch heute noch sehr bedeutsam ist.

Der Mann hieß Mao Zedong, und sein Werk war die „Große Proletarische Kulturrevolution“. Die Faszination dieser Idee für die revolutionären Denker des Westens war die, dass sie sich hauptsächlich auf die Gebiete der Geisteswissenschaften und der Kultur beschränkte und sich nicht mit den Mühen ökonomischer und gesellschaftlicher Realitäten befasste. Die intellektuellen Schuster konnten so bei ihren Leisten bleiben und sich auf diejenigen Felder des Lebens stürzen, auf denen sie sich daheim fühlten. Der durch Mao angezettelte „Krieg der Symbole“ war und ist ein Tummelplatz willkürlicher sprachlicher Festlegungen und Tabus, der Entlarvung und Marginalisierung scheinbarer Feinde. Auch die „Große Proletarische Kulturrevolution“ nahm ihren Anfang bei den chinesischen Studenten. Zunächst entlarvten sie die Feinde als Unmenschen – später schlugen sie sie tot.

Fragte man mich, warum ich nicht gendere, so würde ich antworten: „Weil ich kein Maoist bin.“ Es fällt mir schwer, mich in eine geistige Tradition zu stellen, die nach einigen Schätzungen in China fast genauso viele Tote erzeugt hat wie der Zweite Weltkrieg und die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. Nennt mich einen ewig Gestrigen aber lasst mich bitte am Leben.

Katharsis

Natürlich muss sich ein Dramaturg irgendwann einmal zum Thema Katharsis äußern. Dabei gestehe ich zu meiner Schande, dass ich dieses Konzept, welches durch Aristoteles, vom Kultischen kommend, als zentrales Wirkungsprinzip der Tragödien markiert worden war, lange nicht verstehen konnte. Es war mir schleierhaft, wie Gefühle gereinigt werden können, indem man sie erregt. Während des Studiums und meiner späteren Berufspraxis stellte ich mir selbst und Anderen diese Frage, ohne darauf eine befriedigende Antwort zu erhalten. Es gab Debatten darüber, ob die Affekte Φόβος und Ἔλεος als Furcht und Mitleid oder lieber als ‌Schrecken/Schauder und ‌Jammer/Rührung übersetzt werden sollten. Wir sprachen auch darüber, dass Aristoteles das Ideal von Staatsbürgern hatte, deren Affekte genau das rechte Maß hatten, weil jene ja an wichtigen politischen Entscheidungen mitwirken mussten. Wir können heute verstehen, dass es vielleicht keine gute Idee ist, dass Menschen, die die Schrecken des Krieges nicht mehr kennen, über Krieg und Frieden entscheiden. Wir haben auch erfahren, dass die panische Angst vor einer Seuche nicht immer zu den besten Entscheidungen geführt hat. Kurz: zu viel oder zu wenig Φόβος kann einer Gesellschaft großen Schaden zufügen. Dass die POETIK des Aristoteles eigentlich Teil seiner POLITIK gewesen ist, leuchtete mir schon damals ein und ist mir heute lediglich klarer geworden.

Aber trotzdem konnte ich sehr lange nicht verstehen, wie Gefühle gereinigt werden, indem man sie erregt. Erst durch meine psychotherapeutische Ausbildung gingen mir die nötigen Lichter für diese Erkenntnis auf. Vor allem die Expositionstherapie öffnete mir die Augen. Indem ich Angst aushalte, befreie ich mich von ihrem Übermaß. Ein Kino- oder Theaterbesuch kann einen solchen Effekt ebenso haben wie ein Fernseh- beziehungsweise Streamingabend. Was ich als Kunstwerk sehe, regt meine Gefühle an, ohne eine direkte Konsequenz für mein Leben haben zu müssen. Während der Rezeption des Werkes erlebe ich vielerlei emotionale Impulse, welche sich durch Katharsis reinigen lassen. Die Kunst konfrontiert mich mit Dingen, welche im Alltag durchaus bedrohlich wären oder mich dazu bringen würden, mit einer MPi Amok zu laufen. Die künstlerische Verfremdung hingegen und das Wissen, dass ich einer Fiktion und nicht der Wirklichkeit beiwohne, helfen mir, alle möglichen Affekte auszuhalten und so eine Reinigung zu erfahren. Im Idealfall bin ich durch eine solche Katharsis emotional ein wenig ausgeglichener geworden.

Das moderne Bestreben, bestimmte Affekte von den Zuschauern fernzuhalten, acht zu geben, dass möglichst niemand gekränkt wird, die Kunstwerke durch Sensitivity Reader filtern zu lassen, kurz: dem Unangenehmen keine Plattform zu bieten, erschwert eine Katharsis. Wie sollen Menschen lernen, Unangenehmes emotional auszuhalten? Wie sollen sie so etwas wie eine Resilienz aufbauen können? Als Menschen müssen wir uns körperlichen und mentalen Herausforderungen stellen, um gesund zu bleiben. In der demokratischen Debatte müssen wir eine Gegenposition emotional aushalten können, um gesprächsfähig zu bleiben. Wenn mich alles triggert, laufe ich blind vor Wut oder Angst durch das gesellschaftliche Geschehen. Wenn Kampf oder Flucht die demokratische Debatte verdrängen, ist die Demokratie selbst am Ende. Wenn wir unsere mentale Gesundheit und unser Gemeinwesen stabil halten wollen, brauchen wir immer wieder die Katharsis. Das Unangenehme darf weder aus der Kunst noch aus der Debatte ausgeschlossen werden, wenn wir nicht zu einem Haufen Neurotikern werden wollen, der panisch dem Abgrund entgegenstrebt.

Dritter Teil: ideale und intendierte Schauspieler im Bereich des Theaters

Müssen wir in Film- und Serienproduktionen das Können der Autoren berücksichtigen, wenn es um die Wechselwirkung von Texten und Schauspielkunst geht, bleibt uns diese Mühe im Theater erspart, wenn wir uns an sogenannte „gute Stücke“ halten, an Texte also, deren Qualität die Prüfungen der Zeit bestanden hat.

Dabei zu glauben, dass hierbei ideale, intendierte und real existierende Schauspieler eine reibungslose Einheit bilden würden, ist eine sehr gefährliche Täuschung.

Wie bereits in den Beiträgen über Helenas Monolog beschrieben, hat jede Theaterepoche eine ihr eigene Schauspielkunst vorzuweisen, die durchaus verschiedene Stile beinhalten kann. Unter Berücksichtigung globaler Wahrnehmungen wäre es wahrscheinlich gescheiter, von Theaterkulturen mit jeweils besonderer Schauspielkunst zu sprechen. So ist das, was wir im Abendland als Norm für gutes Schauspiel ansehen, im kulturellen Sinn an eine Zeit und an einen Ort gebunden. Wir können keinesfalls stillschweigend voraussetzen, dass Sophokles oder Shakespeare an unsere bürgerliche Menschendarstellung gedacht haben, als sie die Texte ihrer Stücke niederschrieben.

Wie „realistisch“ in unserem Sinn konnten Shakespeares Mimen wirklich agieren? Wir wissen aus den Stücken, dass die Dekoration verbal durch die Figuren beschrieben werden musste, weil sie auf der kargen Bühne nicht aufgebaut war. Wir finden ebenso die gesprochenen inneren Regungen. Figuren, die über sich sprechen, suchen oft Metaphern für ihr eigenes Leid. Es wird, zumindest in Worten, nicht direkt zum Ausdruck gebracht. Gefühle entzünden sich vielmehr an Schicksalen, die dem eigenen ähneln. Eigenes Leid wächst über das Individuelle hinaus und bekommt so die Größe eines Welterlebens. Die Figuren allerdings können sich in dieser Verallgemeinerung vom unmittelbaren Erleben distanzieren – sie müssen es sogar, um einer solchen Poesie fähig zu sein. Ab und an kommt es auch vor, dass die äußeren Anzeichen innerer Bewegung vom szenischen Partner ausgesprochen werden. Es scheint mir nicht zu kühn anzunehmen, dass solche Anzeichen in der Aufführung ebenso wenig vorhanden waren wie die Dekoration, dass also die unmittelbare Darstellung innerer Regungen wahrscheinlich nicht zum Repertoire elisabethanischer Schauspieler gehörte. Das passt zu Vielen, was man über das Theater an der Schwelle zum Barock weiß. Die Schauspielkunst dieser Zeit hat sich sehr von dem unterschieden, was wir als wahrhaftig betrachten.

Wollen wir Shakespeares Stücke so spielen, als wären sie für die realistische Menschendarstellung geschrieben worden, können wir – rein psychologisch – auf einige kreative Herausforderungen stoßen. Die Texte suggerieren in ihrer unveränderten Form eine recht gemäßigte Emotionalität – Man vergleiche sie einmal mit den Dialogen des STURM UND DRANG. So komplexe Gedanken und Vergleiche lassen sich nicht entwickeln und aussprechen, während man von Affekten gepeitscht wird. Versucht man es trotzdem, wirken die Affekte erzwungen oder der Text geistig nicht durchdrungen – also unverständlich. Wir wissen, dass wir uns weniger gewählt ausdrücken, je stärker wir erregt sind. In Hamlets Rede an die Schauspieler finden wir unter anderem die Aufforderung: „Nor do not saw the air too much with your hand, thus, but use all gently, for in the very torrent, tempest, and, as I may say, whirlwind of your passion, you must acquire and beget a temperance that may give it smoothness.“

Sollte Hamlets Hecuba-Monolog allerdings eine authentische Beschreibung damaliger Schauspielkunst sein, so zeigten die Schauspieler dieser Zeit ihre innere Bewegung durch Mimik, Tränen in den Augen und eine brüchige Stimme. Dies scheint meine Behauptungen zu widerlegen – der betreffende Schauspieler aber spricht vom Leid anderer Menschen und liefert einen Botenbericht ab.
„What’s Hecuba to him, or he to [Hecuba],
That he should weep for her? What would he do
Had he the motive and [the cue] for passion
That I have?“
Hamlet mag ja glauben, dass der Mime die Bühne an seiner statt mit Tränen ertränken würde, stellt aber fest, dass ihm, dem Betroffenen, eine solche dramatische Erregung fehlt. Es scheint so, dass es zu Shakespeares Zeiten einfacher war, über das Leid anderer mit seelischer Bewegung und gut formuliert zu sprechen – aber immer noch ist es so, dass man sich besser auf Dinge emotional einlassen kann, die einen selbst nicht betreffen. Vielleicht ist es ein genialer Kunstgriff Shakespeares, dass er Figuren dadurch emotional involviert, dass sie über das Leid anderer sprechen. Als Hermia und Lysander im SOMMERNACHTSTRAUM das Urteil des Herzogs erfahren, beginnen sie sofort, Beispiele unglücklicher Liebe zu suchen und stellen im Mitleid mit diesen ihre eigene Betroffenheit dar. Im Prinzip reden auch sie über Hecuba. Dieser Weg zur Emotionalität der Figuren, der zudem unmittelbar an die Musikalität der Verssprache gekoppelt ist, ist vom Weg Stanislawskis und all seiner Nachfolger wesentlich verschieden.

Kurz erwähnen möchte ich die Wirkung der Travestie. Wie allgemein bekannt sein dürfte, war es Frauen zu Shakespeares Zeiten verboten, Theater zu spielen. Frauenrollen wurden also von männlichen Schauspielern dargeboten. Wie das ausgesehen haben mag, stelle ich mir anhand von Dragqueens vor, welche in ihren Shows einige Aspekte weiblichen Verhaltens überspitzt darstellen. Ich weiß ja nicht, wie es meinen Lesern geht, aber auf mich wirken solche Shows einigermaßen satirisch und nicht auf eine realistische Erforschung des Innenlebens von Frauen ausgerichtet. Aber irgendwie stelle ich mir vor, dass die Lady Macbeth weniger dämonisch wirkt, wenn sie von einem Mann in Frauenkleidern gespielt wird. Ich muss jedoch zugeben, dass wir auf der Welt Theatertraditionen haben, in denen ernsthafte Frauenrollen von Männern gespielt werden, ohne dass diese wie eine Dragqueen wirken. Die traditionelle Pekingoper mag dafür als gutes Beispiels gelten. Weil aber die Darstellungsweise bei allen Rollen hochstilisiert ist, fällt für mich die Travestie der Frauenrollen gar nicht so sehr aus dem Rahmen. Wenn die elisabethanische Schauspielkunst ähnlich hoch stilisiert war, wird die Lady Macbeth vermutlich nicht als Dragqueen für satirische Effekte gesorgt haben. Über dieses Thema muss ich noch forschen, denn es interessiert mich, ob sich etwas dadurch ändert, dass wir heute Shakespeares Frauenrollen von Frauen spielen lassen.

Zweiter Teil: ideale und intendierte Schauspieler

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass ich im vorigen Beitrag vor allem die Beziehung zwischen idealen und real existierenden Schauspielern in den Mittelpunkt gerückt habe und dem intendierten Schauspieler eine eher stiefmütterliche Randbemerkung gegönnt habe.

Wenn ich jetzt schreibe, dass der intendierte Schauspieler im Kopf des Regisseurs und der ideale im Kopf des Dichters bestehen würde, mag dies, oberflächlich betrachtet, stimmen – jedoch möchte ich das Thema ein wenig vertiefen.

Der ideale Schauspieler lässt sich ausschließlich aus dem Text zurechtphantasieren, wo er einige Spuren hinterlassen hat. Wirklichen Könnern der schreibenden Kunst gelingt in ihren Texten die Suggestion hervorragenden Schauspiels. Das betrifft sowohl den Theater- als auch den filmischen Bereich. Autoren, die ihren Beruf weniger gut beherrschen, suggerieren in ihren Texten deutlich schlechtere Schauspielkunst. Ihr idealer Schauspieler ist ein Stümper.

Der von mir hoch verehrte Schauspieler Alan Rickman bekam einmal die Rolle des Sheriffs von Nottingham angeboten, welche er nach Durchsicht des Drehbuches ablehnte. Offenbar hatte er gespürt, dass der dort suggerierte ideale Schauspieler ein wirklich gutes Spiel erschwert, wenn nicht gar verhindert hätte. Erst die Zusage, er könne mit seiner Rolle machen was er wolle, bewegte ihr zur Annahme. Nun war damit aber das eigentliche Problem noch nicht gelöst. Rickman (und nicht der Regisseur!!!) mag im Kopf gehabt haben, wie er die Rolle spielen möchte, einen intendierten Schauspieler also – jedoch stand der ideale des Drehbuches dazu noch in lebhaftem Widerspruch. Der real existierende Schauspieler wusste genau, dass er Veränderungen in den geschriebenen Szenen und vor allem neue Dialoge benötigen würde, um seine Intentionen zum Leben zu erwecken. Heimlich bat er die Autoren Peter Barnes und Ruby Wax um Hilfe, und zu seinem Glück akzeptierte die Regie die so entstandenen Vorschläge. Jetzt entsprach der ideale Schauspieler dem intendierten. Rickmans Performance wurde ausgezeichnet, obwohl der Film insgesamt doch recht gemischte Kritiken erhielt.

An diesem etwas drastischen Beispiel sehen wir, dass es einer Realitätsverweigerung gleicht, den intendierten Schauspieler komplett unabhängig von idealen zu betrachten. Aber mehr davon im nächsten Beitrag…

Ideale, intendierte und real existierende Schauspieler

Im zweiten Teil meiner Schrift über Schauspielpädagogik hatte ich die Begriffe idealer Schauspieler, intendierter Schauspieler und real existierender Schauspieler eingeführt. Sie mögen auf den ersten Blick nur für Schauspielpädagogik und Schauspielmethodik relevant sein, verdienen aber auch aus dramaturgischer Sicht einige Aufmerksamkeit.

Sehe ich den dramatischen Text als eine Blaupause für spätere Aufführungen an, so müssen Schauspieler in diesen eine zentrale Bedeutung haben – verwandeln sie doch geschriebene Rollen in Figuren. Jeder Mensch, der einen dramatischen Text schreibt, hat nicht nur eine ideale Aufführung im Kopf, sondern selbstverständlich auch ideale Schauspieler, welche in dieser Aufführung agieren.

Es hab verschiedene Zeitalter, in denen Stücke zusammen mit den Schauspieltruppen entwickelt worden – der Dichter also von der Mitautorenschaft seiner spielenden Kollegen profitieren konnte. Für die Texte von Shakespeare besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass sie wenigstens teilweise kollektive Schöpfungen gewesen sind. Nicht zuletzt der beispiellose Wortschatz spricht dafür. Auch viele der Dialoge Molières enthalten Spuren von Improvisationen. Zuerst fiel mir ein solcher Zusammenhang auf, als ich das Textbuch zu einer Inszenierung von Frank Castorf in die Hände bekam. Dieser Regisseur ist bekannt für seine Eigenart, während der Proben die Erfindung neuer Dialoge durch die Schauspieler zu fordern. Als ich zum ersten Mal die Niederschrift einer solchen Arbeit zu lesen bekam, sprang mich die strukturelle Ähnlichkeit zu den Dialogen Molières an. In solchen Produktionsweisen haben sich offenbar die Eigenheiten der real existierenden Schauspieler als ideale Schauspieler in den Text eingebacken.

Vermutlich ähnlich verhält es sich mit Drehbüchern, welche von den Autoren selbst inszeniert werden. Sei es Fassbinder oder der bereits besprochene DANIEL DRUSKAT – die Textgestalt weist klare Bezüge zum Stil des Schauspiels auf. Dies scheint ebenfalls für ältere Filme oder viele amerikanische oder englische Produktionen zuzutreffen, in denen der Eindruck einer Kongruenz von idealem und real existierendem Schauspieler zu bestehen scheint. Offensichtlich hatten die Autoren der Drehbücher diejenige Schauspielkunst im Kopf, die es real gab (oder gibt).

Umso erstaunlicher sind Gespräche, die ich mit einigen deutschen Filmemachern hatte. Diese beschweren sich nicht selten über die real existierende Schauspielkunst in Deutschland. Die Figuren wären hölzern, die Kollegen würden nicht wie Menschen sondern wie Schauspieler sprechen. Offenbar haben die idealen Schauspieler der Autoren nichts mit der Schauspielkunst zu tun, die es tatsächlich in unserem schönen Lande gibt. Da sich auch Regisseure und Produzenten beschweren, ziehen diese sich aus den Büchern offenbar auch eine andere Art der Schauspielerei als die real existierende. Da sich der genannte Personenkreis zwischen dem Autor und dem Schauspieler befindet, nenne ich seine Vorstellung den intendierten Schauspieler. Hier ist es wie im Theater möglich, dass sie die idealen Schauspieler der Autoren nicht gut entschlüsseln können und so die real existierenden vor große Schwierigkeiten stellen.

Öfter aber kommt es vor, dass die Bücher dramaturgisch inkonsistent sind oder die Dialoge unlebendig formuliert wurden. Den Schauspielern wird es so erschwert, ihr künstlerisches Gewissen für die Erarbeitung einer lebendigen Figur zu nutzen. Nicht zu vergessen ist auch die, vom anglophonen Raum sehr verschiedene, Art der stimmlichen und sprecherischen Ausbildung. Ich habe dies ausführlich im dritten Band meiner Schrift zur Schauspielpädagogik beschrieben. Da es ein überwiegend schauspielerisches Problem ist, werde ich es in einem dramaturgischen Text nicht weiter erörtern, obwohl es sicher auch einen Teil der Frustration deutscher Filmemacher mit verursacht.

Was in Deutschland aber besonders fehlt, ist die Muße. Vielleicht wären die Autoren offener für dramaturgische Verbesserungen, wenn sie mehr Zeit hätten. Erfahrungsgemäß spielen auch Schauspieler besser, wenn sie mehr Zeit in die Vorbereitung investieren. Und hier haben wir kein dramaturgisches sondern ein ökonomisches Problem unserer real existierenden Film- und Theaterkunst.

Sommertheater und Dramaturgie

Endlich konnte ich wieder meiner Liebe zum Freilichttheater nachgehen! Zumindest als begeisterter und leider auch dramaturgisch denkender Zuschauer.

Auf einer wunderschön ausgestatteten Freilichtbühne folgte ich einer Geschichte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Ich sah nicht nur eine Kulisse, die bei Dunkelheit und künstlicher Beleuchtung sogar noch einen größeren Reiz entfaltete, die Figuren hatten sehr schöne und angemessene Kostüme, waren anspruchsvoll arrangiert – ihr Schauspiel war teilweise überraschend gut. Auch die Musik fügte sich auf hoher Qualität in diesen Kontext ein. Aktuelle und durchaus witzige Anspielungen über Wahlen im nächsten Jahr, schwedische Küche und Möbel und andere Bemerkungen aus dem Bereich des Kalauers mögen Geschmacksache sein – persönlich mag ich so was auch in historischen Stücken.

Ich fühlte mich also überwiegend gut unterhalten. Da ich unglücklicherweise auch Dramaturg bin, war ich zu Beginn einige Male gestört und im letzten Viertel des Stückes sogar regelrecht verärgert. Davon möchte ich berichten.

Dass einige Szenen ein Expositionsmassaker waren und man die Zuschauer auch anders hätte in die Geschichte einführen können, als durch geopolitische Uraniavorträge der Figuren, schenke ich mir. Der Inszenierung gelang es trotzdem, das Publikum in die Story zu ziehen. Die fehlende Eleganz der Exposition ist Kritik auf einem sehr hohen Niveau.

Störender empfand ich etwas, was ich Effekthascherei nennen muss. Ich liebe Freilichttheater und auch Stücke, die an die Mantel-und Degen-Filme angelehnt sind und dem Publikum mit Pferden, Gefechten und malerischen Volksszenen einen Schmaus bieten, den andere Theaterformen missen lassen. Sind solche wünschenswerten Effekte aber keine Varianten, eine Geschichte zu erzählen, sondern sollen einfach nur etwas Leben in die Bude bringen, stehe ich einem solchen Unterfangen kritischer gegenüber. Sind die Szenen so schwach, dass sie nicht von sich aus zu interessanten Konflikten oder Schlägereien führen können? Muss ich sehen, wie jemand – unabhängig von der Handlung – schräg über die Bühne reitet, um sein Pferd zum Hufschmied zu bringen. Dieser Reiter ist ein Mensch, der immer wieder mit dem Pferd das Geschehen beleben soll, ohne dass ich genau weiß, wer das ist und in welcher Beziehung er zur Handlung steht. Auch die Dialoge zu Pferde wurden immer wieder dadurch „belebt“, dass eine der Figuren – unmotiviert – während des Gespräches eine kleine Runde auf der Bühne ritt. Welche Botschaft sendet dies an den Partner? Das Gespräch mit dir interessiert mich nicht mehr so brennend, also reite ich mal ein wenig durch die Gegend und sehe mir die Häuser genauer an. Und weil ich ein Mikroport habe, kannst du ja auch so verstehen, was ich sage? Nun ist es nicht so, dass die Regie nicht gewusst hätte, wie man Beziehungen zwischen handelnden Figuren organisiert. Beim letzten Kampf zwischen der Heldin und dem Schurken nimmt das anwesende Volk interessiert und mitvollziehend Teil, so das ein Bild und eine Handlung entstehen, die den Fokus auf dieses erzählerisch wichtige Gefecht lenkt.

Geärgert habe ich mich aber wirklich erst im letzten Viertel. Der Held und die Heldin haben einen Komplott aufgedeckt, zu dessen Verhinderung unbedingt ein schwedischer General informiert werden muss. Und weil die Heldin zufällig auch die schwedische Kronprinzessin ist, gibt sie dem Helden ein Tuch mit, welches als Beweis seiner Glaubhaftigkeit dienen soll. Der Held selbst hat einen dringenden und nachvollziehbaren Grund für seinen Ritt (er will seine Stadt retten), und ich bin gespannt, ob der schwedische General rechtzeitig eintreffen wird. Unsere Heldin hingegen hält es für eine gute Idee, zwei Auftragsmördern in die Hände zu laufen, statt sich wie vereinbart in Sicherheit zu begeben. Den Grund für diese interessante Entscheidung erfahre ich nie! Wer kann sie retten? Natürlich unser Held, der seinen wichtigen Ritt unterbrach, weil ihn „so ein Gefühl“ beschlichen hatte. Danach ist von einer Information des Generals nicht mehr die Rede. So wichtig war das wohl doch nicht? Leiden die Hauptfiguren an ADHS oder – schlimmer noch – Demenz? Zum Glück kommt der besagte General von sich aus auf die Idee, in die Stadt zu reiten. Puh! Das ist ja gerade noch mal gut gegangen. Nun kann sich die Kronprinzessin, die sich lange als Page verkleidet hatte und endlich den Bösewicht (mit freundlicher Unterstützung des Helden) besiegen konnte, dem ganzen Heer und den Bürgern der Stadt zu erkennen geben. Inmitten der Bewunderung muss sie plötzlich weg, und ich frage mich warum. Drückt die Blase? Nein. Aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen hat sie ein Kleidchen mit in den Krieg genommen und möchte dieses jetzt unbedingt anziehen. Das ändert zwar nichts – aber wenigstens sieht sie jetzt mehr wie eine Prinzessin aus. Immerhin.

Durch solcherlei Absurditäten wurde ich im letzten Viertel so oft aus der Story gerissen, dass ich die Lust verlor, dieser weiter zu folgen. Ja – das Ganze war trotzdem unterhaltsam und sehenswert. Mich stört viel mehr, dass die Inszenierung durch solcherlei dramaturgische Bequemlichkeiten unter ihren Möglichkeiten geblieben ist. Mit größerer erzählerischer Sorgfalt wäre der Abend nicht nur zwanzig Minuten kürzer, sondern nahezu perfekt gewesen. Man verzeihe mir, dass ich über diese verpassten Gelegenheiten als Dramaturg und Künstler traurig bin.

Vers, ideale und intendierte Aufführung

Bleiben wir noch ein wenig beim Monolog der Helena. Alles was ich über das reflektierte Mitteilen innerer Prozesse im Vorigen geschrieben habe, trifft streng genommen nur auf diejenigen Teile des Monologes zu, dessen Verse eine hohe Regelmäßigkeit aufweisen. Diese Regelmäßigkeit vermittelt eine gewisse Reflektiertheit, welche meine bisherigen Gedanken zur idealen Aufführung des Monologes unterstreicht. Die Verse haben eine Leichtigkeit und Eleganz und erschweren dadurch die Vorstellung der inneren Aufgewühltheit oder der Unfähigkeit, vernünftig zu denken. Nehme ich diese Regelmäßigkeit als Grundrauschen des Monologes an, so könnten mir rhythmische Abweichungen einen Hinweis auf eine mögliche ideale Aufführung geben.

Regelmäßigkeit erleben wir in Versen wie: „And therefore is wing’d Cupid painted blind.“ Diese Gedanken scheinen Helena so klar und bar jeden Zweifels, dass sie wie Wasser von ihren Lippen perlen können. Der bereits zitierte Kalauer „How happy some o’er other some can be!“ impliziert beim Sprechen eine kleine Pause zwischen „o’er“ und „other“. Diese unterstreicht nicht nur den Wortwitz, welcher aus der verschiedenen Anordnung der Worte „some“ und „other“ entsteht – das Wortspiel selbst könnte auch als vorübergehende leichte geistige Verwirrung der Sprecherin gespielt werden.

Die Durchbrechung der Regelmäßigkeit im Rhythmus der Verse kann unsere Phantasie anregen. Sie ist eine der Spuren, welche eine ideale Aufführung hinterlassen hat. Wir können vermuten, dass Shakespeares Schauspieler die glatte Oberfläche wohl formulierter Gedanken auf diese Weise durchbrochen haben – so wie kleine Wellen in einem stillen Gewässer etwas vermuten lassen, das ein springender Fisch oder ein Kiesel sein könnte. Ich bin leider nicht genug in die Feinheiten Elisabethanischer Schauspielkunst eingedrungen, um mich, metaphorisch gesprochen, für Fisch oder Kiesel entscheiden zu können. Ich sehe aber das Potenzial dieser kleinen metaphorischen Wellen für eine intendierte Aufführung.

Hier ein Beispiel:
„Through Athens I am thought as fair as she.
But what of that? Demetrius thinks not so;
He will not know what all but he do know;“

Im ersten dieser Verse finde ich eine kleine Kräuselung im Rhythmus: „Through Athens“ sticht hervor, bevor sich der Vers wieder der Regelmäßigkeit bequemt. In meinem (deutschen) Kopf höre ich: „Ganz Athen (!!!!!!!!) weiß, dass ich genauso schön wie sie bin. Spontan fallen mir dazu zwei schauspielerische Gestaltungsmöglichkeiten ein. Die erste ist eine rhetorische Hervorhebung, welche für die Zuschauer betont, dass eben Ganz Athen von der Schönheit Helenas begeistert ist. Die zweite gibt der Schauspielerin eine kurze Gelegenheit auszurasten, bevor sie sich in der Regelmäßigkeit ihrer Worte wieder einkriegt. Fisch oder Kiesel eben können eine solche Kräuselung verursachen. Die Ruhe im Rhythmus aber ist von kurzer Dauer, denn Helena fährt fort:
„And as he errs, doting on Hermia’s eyes,“
Das Komma trennt im Vers zwei Hebungen, was das Wort „doting“ hervorhebt und dadurch eben einen Schwerpunkt darauf legt, dass Demetrius vernarrt in Hermia ist. Auch hier bieten sich der Schauspielerin die Möglichkeit, ihre vernünftigen Darlegungen mit einer emotionalen Spitze zu durchbrechen.

Wahrscheinlich ist es etwas viel von einem Dramaturgen verlangt, das ganze Stück aus diese Weise aufzubrechen und eine Gebrauchsanweisung für die Verssprache zu verfassen. Wenn sich Schauspieler darauf einlassen, selbst einmal zu forschen, wird sich ihnen ein Meer von Gestaltungsmöglichkeiten erschließen. Dramaturgen können aber mit einer gewissen Sorgfalt auf die Übersetzung achten – also diejenige, welche der intendierten Aufführung der Regie am besten ziemt.

Betrachten wir kurz die besprochenen Verse in Schlegels Übersetzung:
„Wie kann das Glück so wunderlich doch schalten!
Ich werde für so schön wie sie gehalten.
Was hilft es mir, solang’ Demetrius
Nicht wissen will, was jeder wissen muß?
Wie Wahn ihn zwingt, an Hermias Blick zu hangen,“
Beim lauten Sprechen fällt die konsequente Regelmäßigkeit im Rhythmus auf. Schlegels ideale Aufführung unterscheidet sich deutlich von der Shakespeares und zwingt die Schauspielerin viel mehr in die Bahnen der Vernunft. Kein Wortspiel und kein Kräuseln der glatten Oberfläche laden uns ein, nach Fischen oder Kieseln zu suchen…

Helenas Monolog und die intendierte Aufführung

Will ich die ideale Aufführung eines Theaterstückes aus längst vergangenen Zeiten herausfinden, so ist es eine gute Idee, die Aufführungskonventionen jener Zeiten vor mein geistiges Auge zu stellen und so einen gewissen Kontext für die sichtbaren Texte zu schaffen.

Zu Shakespeares Zeiten, das ist recht sicher anzunehmen, dürfte die Idee einer vierten Wand im Theater keine Rolle gespielt haben. Figuren kommunizierten nicht nur miteinander, sondern auch mit dem Publikum. Monologe spielten eine besondere erzählerische Rolle: sie informierten das Publikum nicht nur auf eine sehr effektive Art und Weise – die sprechende Figur konnte die Zuschauer zudem auf ihre Lage und ihre Motivationen einstimmen. Dem Geschmack der Zeit entsprach es außerdem, über irrationale emotionale Prozesse durch den Filter der Vernunft zu sprechen. Solche Prozesse wurden in einem Monolog nicht gezeigt. Sie wurden reflektiert vorgetragen. An dem Schnittpunkt zwischen Emotion und Vernunft entsteht bei Shakespeare die ihm eigene Poesie. Auch in vermutlich höchster Erregung, in Momenten komplett irrationaler Entscheidungen können die Figuren mit gebildeten Metaphern brillieren und haben genug geistige Kapazität für Kalauer. Helenas Monolog beginnt mit einem solchen: „How happy some o’er other some can be!“

Und Helenas Verfassung ist im Moment ihres ersten Monologs unbedingt irrational zu nennen. Anstatt Hermia und Lysander fliehen zu lassen – will sie petzen! Nicht im Ansatz kommt ihr der Gedanke, dass sich ihre Chancen bei Demetrius erhöhen könnten, wenn Hermia einmal aus der Stadt ist. Dieser Umstand ist bemerkenswert, weil Helena eben diesen Gedanken kurz vorher aus Hermias Mund gehört hat. Als Zuschauer muss ich mich sehr darüber wundern. Es besteht eine gewisse erzählerische Notwendigkeit, mir zu erklären, dass die Liebe keine vernünftigen Entscheidungen trifft. Den Konventionen der Zeit entsprechend, zeigt mir Helena nicht ihren desolaten Zustand, sondern fasst ihn in wohlgesetzte Worte – so wie es Personen tun, die durchaus Herr ihrer Sinne sind.

Mit diesem Widerspruch wird sich eine moderne Inszenierung auseinandersetzen müssen. Die intendierte Aufführung könnte die Unvernunft von Helenas Entscheidung schlicht nicht zur Kenntnis nehmen und hoffen, dass sich das Publikum nicht daran stört. Sie könnte sich aber auch dafür entscheiden, die Figur der Helena in einem emotionalen Ausnahmezustand zu präsentieren, was die Schauspielerin wiederum vor Probleme mit der Sprache stellen könnte.

Oder aber man zeichnet die Figur der Helena als derart berechnend und bösartig, dass sie Hermias Glück um jeden Preis zerstören möchte. Ihr Monolog wäre dann eine Art Reinwaschung in dem Sinne: „Ich kann ja gar nichts dafür.“

Ohne Änderungen am Text (welche ja immer möglich sind) stellt die ideale Aufführung die intendierte Aufführung vor Herausforderungen, die vermutlich interessantere Lösungen zur Folge haben als die Ignoranz dessen, was die Textgestalt impliziert.

Intendierte und ideale Aufführung

Auch wenn es, wie im letzten Beitrag beschrieben, mannigfaltige Möglichkeiten für Regisseure gibt, die sichtbaren Teile eines Theaterstückes miteinander zu verknüpfen und so ihre ganz eigene – und vielleicht komplett neue – Geschichte zu erzählen, warne ich vor gedankenloser Beliebigkeit. Jeder Theatertext enthält Spuren einer idealen Aufführung. Was immer meiner Phantasie entspringt, sollte zu diesen Spuren passen, mit ihnen konsistent sein – es sei denn, ich streiche diejenigen Texte, welche Spuren enthalten, die meine eigene Geschichte stören. Das ist eine durchaus legitime Lösung. Als Dramaturg war ich oft „gefürchtet“ wegen meiner rabiaten Strichvorschläge. Ich wollte damit der Regie möglichst große Freiräume für ihre eigenen Geschichten schaffen.

Plane ich eine Inszenierung, die auf einem vorhandenen Theatertext basiert, so habe ich als Regisseur meine eigene Aufführung im Kopf. Im Begriffsverwirrungen zu vermeiden, nenne ich diese die intendierte Aufführung. Diese kann sich deutlich von der idealen Aufführung im Kopfe des Dichters unterscheiden, auch ohne rabiate Striche erforderlich zu machen. Nur sollten in diesem Fall die neuen Verknüpfungen, welche die intendierte Aufführung erschafft, zu den Spuren passen, die eine ideale Aufführung in den Texten hinterlassen hat.

Das eben Geschriebene, so werden Viele argumentieren, zeugt von einer gewissen Kleingeistigkeit der Dramaturgen. Was ist mit der künstlerischen Freiheit und der der Interpretationen? Nun, diese sehe ich durch meine Forderung nicht in Gefahr. Ich habe nichts dagegen, den Text so zu streichen oder verändern, dass er zur intendierten Aufführung passt. Ich unterstütze im Übrigen die Möglichkeit, ein Stück so zu inszenieren, dass sich Inszenierung und gesprochener Text aneinander reiben und sich dieser Widerspruch auch deutlich manifestiert. Es sollte nur eine künstlerische Absicht dahinter stecken und keine Gedankenlosigkeit. Als Regisseur, der ein Stück inszeniert, verhalte ich mich zu Mythen. Mythen, also sinnstiftende Geschichten, entstehen durch Verknüpfungen. Ich kann auch durch meine inszenatorischen Verknüpfungen vorhandene Mythen in Frage stellen und damit den Sinn, den sie stiften sollen, öffentlich zur Diskussion stellen. Das Theater der Postmoderne hat diesen Weg oft gewählt. Diese beabsichtigte Diskussion ist der Sinn meiner intendierten Aufführung. Als Dramaturg kritisiere ich weder solche Inszenierungen oder solche, die durch kluge Striche Raum für neue Mythen (oder Verknüpfungen) geschaffen haben.

Verknüpfungen erschaffen erst den Sinn des Erzählten. Passen nun Teile einer Aufführung nicht zum Sinn, ohne dass dahinter eine künstlerische Absicht erkennbar ist, so wird dieser spezielle Sinn an ebendiesen Teilen zerrissen. Das Kunstwerk wirkt unorganisch und nicht gekonnt. Das künstlerische Gewissen (siehe Beitrag dazu) der arbeitenden Künstler wird ebenso gestört wie das der Zuschauer – ein inspirierender Flow bleibt aus, ohne dass dies beabsichtigt wurde. Als Dramaturg möchte ich gern mein Team davor bewahren.

Um deutlich zu machen, was ich damit meine, greife ich im nächsten Beitrag auf ein Beispiel zurück, das ich im zweiten Band meiner Schrift über Schauspielpädagogik benutzt habe: den Monolog der Helena aus dem SOMMERNACHTSTRAUM.

Ich gehe an dieser Stelle nicht näher auf den Umstand ein, dass dieser Monolog von Shakespeare nicht für eine Frau sondern für einen Transvestiten geschrieben worden war und alle Implikationen, die das für die Aufführung gehabt haben mag. Dieses Thema betrifft zwar auch Spuren im Text, passt aber besser zu Begriffen wie idealer Schauspieler, intendierter Schauspieler und real existierender Schauspieler, an die ich mich in dem bereits erwähnten Buch angenähert habe.

Ich bitte meine Leser, diesen Cliffhanger zum nächsten Beitrag gnädig aufzunehmen.

Ideale Aufführung

Dramaturgen werden aus verschiedenen Gründen gehasst. Einer davon ist die Idee, sie würden die Interessen der Dichter gegen die Theaterkünstler verteidigen wollen und erwarten, dass dem geschriebenen Wort die Treue gehalten wird. Ich weiß nicht, wie viele solcher Kollegen es gibt. Persönlich kenne ich keinen.

Ich schreibe diese Einleitung hauptsächlich deshalb, weil ich ein gewisses Feld des Misstrauens erwarte, wenn ich von einer idealen Aufführung spreche und sie definiere als diejenige Aufführung, die der Dichter beim Dichten im Kopf gehabt haben mag. Das Wörtchen mag ist in diesem Zusammenhang deutlich hervorzuheben, denn niemand kann die Gedanken fremder Menschen so lesen, dass er die Feinheiten ihrer schöpferischen Prozesse getreu reproduzieren könnte. Jedoch ist es für mich unbestritten, dass die Vorstellungen der Autoren Spuren in ihren Texten hinterlassen. Eine gute dramaturgische Analyse wird diesen Spuren folgen. Je mehr ich über Aufführungspraxis und Rezeptionsgewohnheiten der Entstehungszeit eines bestimmten Werkes weiß, desto besser kann ich das ergänzen, was nicht explizit niedergeschrieben ist. Die Worte, die ich lese, sind der sichtbare Teil, der durch unsichtbare Verknüpfungen im Kopf des Autors zusammengehalten wird.

Spreche ich als Dramaturg von idealen Aufführungen, so sind diese meist Hypothesen – zumindest in den traditionellen Kontexten der Theater werde ich die Autoren selten präzise nach ihren Vorstellungen befragen können. Dies ist natürlich bei kollektiven Stückentwicklungen etwas Anderes, weil diese durch die Autoren selbst zur Aufführung gebracht werden. Dasselbe lässt sich über Drehbücher sagen, welche von den Autoren selbst realisiert werden. DANIEL DRUSKAT – von Lothar Bellag nach einem Roman geschrieben und selbst inszeniert – mag als Beispiel dafür gelten. In einem vergangenen Beitrag hatte ich einige der Texte als deklamatorisch beschrieben, in dieser Eigenschaft einer feudalen Theatertradition folgend. Die konsequenteste Umsetzung eines solchen deklamatorischen Textes dürfte der Monolog des Max Stephan über den Genuss im Sozialismus sein. Wie ein Herrscher schreitet Manfred Krug dabei die Freitreppe eines Schlosses hinab. Auch in den Filmen des Rainer Werner Fassbinder, dem Werk des Sergio Leone oder des Quentin Tarantino werden die Ideen der Autoren plastisch sichtbar. Die ideale Aufführung dürfte in weiten Teilen dem entsprechen, was wir sehen.

Ganz anders hingegen ist das bei Autoren, deren Stücke seit langem zum Repertoire unserer Theater gehören. Nicht nur sind sie meist schon eine Weile tot – die gesellschaftlichen Bedingungen, die Theaterkonventionen und Rezeptionsgewohnheiten ihrer Zeit liegen auch im Dunkel der Geschichte. So muss die ideale Aufführung immer eine Hypothese bleiben. Es ist dies eine Hypothese, welche vom Sichtbaren auf das Unsichtbare schließt.

Im zweiten Band meiner Schrift über die Schauspielpädagogik hatte ich einige Beispiele dazu betrachtet. Eines davon, Tschechows DIE MÖWE, möchte ich an dieser Stelle noch einmal in den Fokus stellen. Dort hatte ich die Standesunterschiede zwischen den Figuren zum Ausgang genommen, um ihre Beziehungen zueinander in einen historischen Kontext zu stellen und so dem Sichtbaren (dem Text) über die Verknüpfung zu den sozialen Positionen einen besonderen Sinn zu verleihen. Das Leiden Kostjas stand so im Kontext seiner Herkunft: mütterlicherseits höchster russischer Adel, väterlicherseits ukrainischer Kleinbürger. Er kämpft sowohl um die Liebe seiner adligen Mutter als auch um die Liebe der Tochter eines russischen Gutsbesitzers. Die Avancen von Mascha verschmäht er. Ihre Familie gehört der tatarischen Oberschicht an, kann es jedoch unter Russen nur zu Hausangestellten bringen. Ein romantisches Band zu Kostja würde sie zumindest in die Nähe einer Position bringen, welche ihr zustehen sollte. Die Ehe mit einem Lehrer wirkt in diesem Kontext wie ein sozialer Abstieg – die ständigen Nörgeleien Maschas ergeben durch diese Verknüpfung einen Sinn. Es ist wahrscheinlich, dass ein solcher Kontext Teil der idealen Aufführung in Tschechows Kopf gewesen sein mag. Aus seinem Werk lässt sich schließen, dass er das Beharren auf Standesunterschieden in seiner Zeit absolut lächerlich fand. Es würde auch erklären, warum er ein Stück als Komödie bezeichnet hat, welches mit einer schizophrenen Nina und einem toten Kostja endet.

Auch wenn ich mir als Dramaturg mit der Extraktion einer idealen Aufführung die größte Mühe gebe, ist das Ergebnis meiner Arbeit nicht die einzige Möglichkeit, das Sichtbare miteinander zu verknüpfen. Bei einem Kunstwerk, welches den Augenblick überdauert, liegt, wie bei einem Eisberg, das meiste in unsichtbaren Regionen und lässt so eine Menge Freiraum für die Phantasie nachfolgender Generationen. Genau diese unsichtbaren Anteile sorgen dafür, dass uns heute ein Werk noch anspricht, dessen Konflikte zu seiner Entstehungszeit für uns nicht mehr relevant sind. Ich möchte die Wirkung eines solchen Kunstwerkes nicht mit einem Rorschachtest vergleichen, weil ich sie nicht für derart beliebig halte. Aber trotzdem ergeben sich aus dem Sichtbaren der Textgestalt mehr Varianten der Verknüpfung, als es unsere „Schulweisheit träumen lässt“. Letztens sah ich eine Studentenarbeit der MÖWE, welche aus der Ehe Maschas und Medwedjenkos eine bodenständige, liebevolle Beziehung gezaubert hat, welche trotz aller Streitereien (vielleicht auch gerade wegen dieser) einen wohltuenden Kontrast zur gekünstelten Welt der Anderen bildete. Dazu musste nicht in den (sichtbaren) Text eingegriffen werden. Vielmehr schaffte die Inszenierung eine solche Verknüpfung.