Natürlich muss sich ein Dramaturg irgendwann einmal zum Thema Katharsis äußern. Dabei gestehe ich zu meiner Schande, dass ich dieses Konzept, welches durch Aristoteles, vom Kultischen kommend, als zentrales Wirkungsprinzip der Tragödien markiert worden war, lange nicht verstehen konnte. Es war mir schleierhaft, wie Gefühle gereinigt werden können, indem man sie erregt. Während des Studiums und meiner späteren Berufspraxis stellte ich mir selbst und Anderen diese Frage, ohne darauf eine befriedigende Antwort zu erhalten. Es gab Debatten darüber, ob die Affekte Φόβος und Ἔλεος als Furcht und Mitleid oder lieber als Schrecken/Schauder und Jammer/Rührung übersetzt werden sollten. Wir sprachen auch darüber, dass Aristoteles das Ideal von Staatsbürgern hatte, deren Affekte genau das rechte Maß hatten, weil jene ja an wichtigen politischen Entscheidungen mitwirken mussten. Wir können heute verstehen, dass es vielleicht keine gute Idee ist, dass Menschen, die die Schrecken des Krieges nicht mehr kennen, über Krieg und Frieden entscheiden. Wir haben auch erfahren, dass die panische Angst vor einer Seuche nicht immer zu den besten Entscheidungen geführt hat. Kurz: zu viel oder zu wenig Φόβος kann einer Gesellschaft großen Schaden zufügen. Dass die POETIK des Aristoteles eigentlich Teil seiner POLITIK gewesen ist, leuchtete mir schon damals ein und ist mir heute lediglich klarer geworden.
Aber trotzdem konnte ich sehr lange nicht verstehen, wie Gefühle gereinigt werden, indem man sie erregt. Erst durch meine psychotherapeutische Ausbildung gingen mir die nötigen Lichter für diese Erkenntnis auf. Vor allem die Expositionstherapie öffnete mir die Augen. Indem ich Angst aushalte, befreie ich mich von ihrem Übermaß. Ein Kino- oder Theaterbesuch kann einen solchen Effekt ebenso haben wie ein Fernseh- beziehungsweise Streamingabend. Was ich als Kunstwerk sehe, regt meine Gefühle an, ohne eine direkte Konsequenz für mein Leben haben zu müssen. Während der Rezeption des Werkes erlebe ich vielerlei emotionale Impulse, welche sich durch Katharsis reinigen lassen. Die Kunst konfrontiert mich mit Dingen, welche im Alltag durchaus bedrohlich wären oder mich dazu bringen würden, mit einer MPi Amok zu laufen. Die künstlerische Verfremdung hingegen und das Wissen, dass ich einer Fiktion und nicht der Wirklichkeit beiwohne, helfen mir, alle möglichen Affekte auszuhalten und so eine Reinigung zu erfahren. Im Idealfall bin ich durch eine solche Katharsis emotional ein wenig ausgeglichener geworden.
Das moderne Bestreben, bestimmte Affekte von den Zuschauern fernzuhalten, acht zu geben, dass möglichst niemand gekränkt wird, die Kunstwerke durch Sensitivity Reader filtern zu lassen, kurz: dem Unangenehmen keine Plattform zu bieten, erschwert eine Katharsis. Wie sollen Menschen lernen, Unangenehmes emotional auszuhalten? Wie sollen sie so etwas wie eine Resilienz aufbauen können? Als Menschen müssen wir uns körperlichen und mentalen Herausforderungen stellen, um gesund zu bleiben. In der demokratischen Debatte müssen wir eine Gegenposition emotional aushalten können, um gesprächsfähig zu bleiben. Wenn mich alles triggert, laufe ich blind vor Wut oder Angst durch das gesellschaftliche Geschehen. Wenn Kampf oder Flucht die demokratische Debatte verdrängen, ist die Demokratie selbst am Ende. Wenn wir unsere mentale Gesundheit und unser Gemeinwesen stabil halten wollen, brauchen wir immer wieder die Katharsis. Das Unangenehme darf weder aus der Kunst noch aus der Debatte ausgeschlossen werden, wenn wir nicht zu einem Haufen Neurotikern werden wollen, der panisch dem Abgrund entgegenstrebt.