Ideale Aufführung

Dramaturgen werden aus verschiedenen Gründen gehasst. Einer davon ist die Idee, sie würden die Interessen der Dichter gegen die Theaterkünstler verteidigen wollen und erwarten, dass dem geschriebenen Wort die Treue gehalten wird. Ich weiß nicht, wie viele solcher Kollegen es gibt. Persönlich kenne ich keinen.

Ich schreibe diese Einleitung hauptsächlich deshalb, weil ich ein gewisses Feld des Misstrauens erwarte, wenn ich von einer idealen Aufführung spreche und sie definiere als diejenige Aufführung, die der Dichter beim Dichten im Kopf gehabt haben mag. Das Wörtchen mag ist in diesem Zusammenhang deutlich hervorzuheben, denn niemand kann die Gedanken fremder Menschen so lesen, dass er die Feinheiten ihrer schöpferischen Prozesse getreu reproduzieren könnte. Jedoch ist es für mich unbestritten, dass die Vorstellungen der Autoren Spuren in ihren Texten hinterlassen. Eine gute dramaturgische Analyse wird diesen Spuren folgen. Je mehr ich über Aufführungspraxis und Rezeptionsgewohnheiten der Entstehungszeit eines bestimmten Werkes weiß, desto besser kann ich das ergänzen, was nicht explizit niedergeschrieben ist. Die Worte, die ich lese, sind der sichtbare Teil, der durch unsichtbare Verknüpfungen im Kopf des Autors zusammengehalten wird.

Spreche ich als Dramaturg von idealen Aufführungen, so sind diese meist Hypothesen – zumindest in den traditionellen Kontexten der Theater werde ich die Autoren selten präzise nach ihren Vorstellungen befragen können. Dies ist natürlich bei kollektiven Stückentwicklungen etwas Anderes, weil diese durch die Autoren selbst zur Aufführung gebracht werden. Dasselbe lässt sich über Drehbücher sagen, welche von den Autoren selbst realisiert werden. DANIEL DRUSKAT – von Lothar Bellag nach einem Roman geschrieben und selbst inszeniert – mag als Beispiel dafür gelten. In einem vergangenen Beitrag hatte ich einige der Texte als deklamatorisch beschrieben, in dieser Eigenschaft einer feudalen Theatertradition folgend. Die konsequenteste Umsetzung eines solchen deklamatorischen Textes dürfte der Monolog des Max Stephan über den Genuss im Sozialismus sein. Wie ein Herrscher schreitet Manfred Krug dabei die Freitreppe eines Schlosses hinab. Auch in den Filmen des Rainer Werner Fassbinder, dem Werk des Sergio Leone oder des Quentin Tarantino werden die Ideen der Autoren plastisch sichtbar. Die ideale Aufführung dürfte in weiten Teilen dem entsprechen, was wir sehen.

Ganz anders hingegen ist das bei Autoren, deren Stücke seit langem zum Repertoire unserer Theater gehören. Nicht nur sind sie meist schon eine Weile tot – die gesellschaftlichen Bedingungen, die Theaterkonventionen und Rezeptionsgewohnheiten ihrer Zeit liegen auch im Dunkel der Geschichte. So muss die ideale Aufführung immer eine Hypothese bleiben. Es ist dies eine Hypothese, welche vom Sichtbaren auf das Unsichtbare schließt.

Im zweiten Band meiner Schrift über die Schauspielpädagogik hatte ich einige Beispiele dazu betrachtet. Eines davon, Tschechows DIE MÖWE, möchte ich an dieser Stelle noch einmal in den Fokus stellen. Dort hatte ich die Standesunterschiede zwischen den Figuren zum Ausgang genommen, um ihre Beziehungen zueinander in einen historischen Kontext zu stellen und so dem Sichtbaren (dem Text) über die Verknüpfung zu den sozialen Positionen einen besonderen Sinn zu verleihen. Das Leiden Kostjas stand so im Kontext seiner Herkunft: mütterlicherseits höchster russischer Adel, väterlicherseits ukrainischer Kleinbürger. Er kämpft sowohl um die Liebe seiner adligen Mutter als auch um die Liebe der Tochter eines russischen Gutsbesitzers. Die Avancen von Mascha verschmäht er. Ihre Familie gehört der tatarischen Oberschicht an, kann es jedoch unter Russen nur zu Hausangestellten bringen. Ein romantisches Band zu Kostja würde sie zumindest in die Nähe einer Position bringen, welche ihr zustehen sollte. Die Ehe mit einem Lehrer wirkt in diesem Kontext wie ein sozialer Abstieg – die ständigen Nörgeleien Maschas ergeben durch diese Verknüpfung einen Sinn. Es ist wahrscheinlich, dass ein solcher Kontext Teil der idealen Aufführung in Tschechows Kopf gewesen sein mag. Aus seinem Werk lässt sich schließen, dass er das Beharren auf Standesunterschieden in seiner Zeit absolut lächerlich fand. Es würde auch erklären, warum er ein Stück als Komödie bezeichnet hat, welches mit einer schizophrenen Nina und einem toten Kostja endet.

Auch wenn ich mir als Dramaturg mit der Extraktion einer idealen Aufführung die größte Mühe gebe, ist das Ergebnis meiner Arbeit nicht die einzige Möglichkeit, das Sichtbare miteinander zu verknüpfen. Bei einem Kunstwerk, welches den Augenblick überdauert, liegt, wie bei einem Eisberg, das meiste in unsichtbaren Regionen und lässt so eine Menge Freiraum für die Phantasie nachfolgender Generationen. Genau diese unsichtbaren Anteile sorgen dafür, dass uns heute ein Werk noch anspricht, dessen Konflikte zu seiner Entstehungszeit für uns nicht mehr relevant sind. Ich möchte die Wirkung eines solchen Kunstwerkes nicht mit einem Rorschachtest vergleichen, weil ich sie nicht für derart beliebig halte. Aber trotzdem ergeben sich aus dem Sichtbaren der Textgestalt mehr Varianten der Verknüpfung, als es unsere „Schulweisheit träumen lässt“. Letztens sah ich eine Studentenarbeit der MÖWE, welche aus der Ehe Maschas und Medwedjenkos eine bodenständige, liebevolle Beziehung gezaubert hat, welche trotz aller Streitereien (vielleicht auch gerade wegen dieser) einen wohltuenden Kontrast zur gekünstelten Welt der Anderen bildete. Dazu musste nicht in den (sichtbaren) Text eingegriffen werden. Vielmehr schaffte die Inszenierung eine solche Verknüpfung.

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