Auch wenn es, wie im letzten Beitrag beschrieben, mannigfaltige Möglichkeiten für Regisseure gibt, die sichtbaren Teile eines Theaterstückes miteinander zu verknüpfen und so ihre ganz eigene – und vielleicht komplett neue – Geschichte zu erzählen, warne ich vor gedankenloser Beliebigkeit. Jeder Theatertext enthält Spuren einer idealen Aufführung. Was immer meiner Phantasie entspringt, sollte zu diesen Spuren passen, mit ihnen konsistent sein – es sei denn, ich streiche diejenigen Texte, welche Spuren enthalten, die meine eigene Geschichte stören. Das ist eine durchaus legitime Lösung. Als Dramaturg war ich oft „gefürchtet“ wegen meiner rabiaten Strichvorschläge. Ich wollte damit der Regie möglichst große Freiräume für ihre eigenen Geschichten schaffen.
Plane ich eine Inszenierung, die auf einem vorhandenen Theatertext basiert, so habe ich als Regisseur meine eigene Aufführung im Kopf. Im Begriffsverwirrungen zu vermeiden, nenne ich diese die intendierte Aufführung. Diese kann sich deutlich von der idealen Aufführung im Kopfe des Dichters unterscheiden, auch ohne rabiate Striche erforderlich zu machen. Nur sollten in diesem Fall die neuen Verknüpfungen, welche die intendierte Aufführung erschafft, zu den Spuren passen, die eine ideale Aufführung in den Texten hinterlassen hat.
Das eben Geschriebene, so werden Viele argumentieren, zeugt von einer gewissen Kleingeistigkeit der Dramaturgen. Was ist mit der künstlerischen Freiheit und der der Interpretationen? Nun, diese sehe ich durch meine Forderung nicht in Gefahr. Ich habe nichts dagegen, den Text so zu streichen oder verändern, dass er zur intendierten Aufführung passt. Ich unterstütze im Übrigen die Möglichkeit, ein Stück so zu inszenieren, dass sich Inszenierung und gesprochener Text aneinander reiben und sich dieser Widerspruch auch deutlich manifestiert. Es sollte nur eine künstlerische Absicht dahinter stecken und keine Gedankenlosigkeit. Als Regisseur, der ein Stück inszeniert, verhalte ich mich zu Mythen. Mythen, also sinnstiftende Geschichten, entstehen durch Verknüpfungen. Ich kann auch durch meine inszenatorischen Verknüpfungen vorhandene Mythen in Frage stellen und damit den Sinn, den sie stiften sollen, öffentlich zur Diskussion stellen. Das Theater der Postmoderne hat diesen Weg oft gewählt. Diese beabsichtigte Diskussion ist der Sinn meiner intendierten Aufführung. Als Dramaturg kritisiere ich weder solche Inszenierungen oder solche, die durch kluge Striche Raum für neue Mythen (oder Verknüpfungen) geschaffen haben.
Verknüpfungen erschaffen erst den Sinn des Erzählten. Passen nun Teile einer Aufführung nicht zum Sinn, ohne dass dahinter eine künstlerische Absicht erkennbar ist, so wird dieser spezielle Sinn an ebendiesen Teilen zerrissen. Das Kunstwerk wirkt unorganisch und nicht gekonnt. Das künstlerische Gewissen (siehe Beitrag dazu) der arbeitenden Künstler wird ebenso gestört wie das der Zuschauer – ein inspirierender Flow bleibt aus, ohne dass dies beabsichtigt wurde. Als Dramaturg möchte ich gern mein Team davor bewahren.
Um deutlich zu machen, was ich damit meine, greife ich im nächsten Beitrag auf ein Beispiel zurück, das ich im zweiten Band meiner Schrift über Schauspielpädagogik benutzt habe: den Monolog der Helena aus dem SOMMERNACHTSTRAUM.
Ich gehe an dieser Stelle nicht näher auf den Umstand ein, dass dieser Monolog von Shakespeare nicht für eine Frau sondern für einen Transvestiten geschrieben worden war und alle Implikationen, die das für die Aufführung gehabt haben mag. Dieses Thema betrifft zwar auch Spuren im Text, passt aber besser zu Begriffen wie idealer Schauspieler, intendierter Schauspieler und real existierender Schauspieler, an die ich mich in dem bereits erwähnten Buch angenähert habe.
Ich bitte meine Leser, diesen Cliffhanger zum nächsten Beitrag gnädig aufzunehmen.