Was ich beim Schreiben eines Romanes über Filmdramaturgie gelernt habe

Eigentlich wollte ich ja ein Drehbuch schreiben. In der Phase allerdings, als aus dem Exposé ein Treatment werden sollte, begann ich zu stocken, weil ich keine Lust hatte, mich an die filmischen Konventionen zu halten. So entschloss ich mich, den Stoff in einem Roman fortzuführen. Dabei öffneten sich meine Augen. Ich begann einen wesentlichen Unterschied zwischen guten und schlechten Szenen zu verstehen, zu begreifen, weshalb mich bei Krimis Szenen langweilen oder interessieren. Und davon möchte ich berichten…

Während des Schreibens meines Romanes muss ich mich immer wieder dafür entscheiden, welche Begebenheiten ich erzählend wiedergebe und welche eine Szene erfordern, bei der eine oder mehrere Figuren sichtbar sind, die untereinander oder mit der Umwelt interagieren. Entwickelt sich die Handlung also in Echtzeit aus solchen Interaktionen oder kann sie auf eine andere Art und Weise erzählt werden? Ich entscheide mich immer wieder aufs Neue, welche Handlungsteile es verdient haben, zur Szene zu werden und über welche einfach berichtet werden kann.

Dabei kam ich immer wieder auf die Begriffe episch und dramatisch, deren Definition ich für diesen Zweck ausdrücklich nicht an die Überlegungen Brechts anlehne.

Was also verstehe ich unter dramatisch?
Dramatisch nenne ich ein Handeln, welches Widerstände überwindet und bei dem Entscheidungen eine zentrale Rolle spielen. In einer Szene kann sich das Dramatische verschieden realisieren. Wird um Status gekämpft? Welche Ziele verfolgen die Figuren? Was steht dem entgegen?
Dass, beispielsweise, ein Kriminalist einen Fall lösen möchte, der Täter sich dieser Bestrebung entzieht, ist ein zu schwacher Konflikt, als dass er die direkte Interaktion von Detektiv und Verbrecher erfordert. COLUMBO zeichnet sich dadurch aus, dass der „kleine Mann“ immer wieder gegen die elitärem Gegner triumphiert. Das gibt den Geschichten nicht nur eine gesellschaftliche Relevanz, sondern sorgt dadurch eben für zwischenmenschliche Konflikte, die es verdient haben, zwischen den Kontrahenten in Echtzeit ausgetragen zu werden. Und weil die Täter meist bekannt sind, ist das Duell zwischen zwei Menschen, der Kampf darum, wer klüger und besser ist, im besten Sinne dramatisch zu nennen. HOUSE oder BONES leben von Statuskämpfen, welche die trockenen wissenschaftlichen Fakten lebendig werden lassen. Es ergeben sich in diesen Fällen immer Interaktionen, welche ich als Zuschauer gern und gespannt in Echtzeit mitverfolge. Solche Szenen müssen sein!

Was aber ist mit Szenen, die mich als Zuschauer einfach informieren – sei’s als Exposition oder Darlegung der Fakten in Kriminalfällen? Wenn sie nicht von Konflikten zwischen Figuren begleitet werden, die man in der Szene auch kämpfend austrägt, sind sie nicht dramatisch und sollten anders erzählt werden.
Die Filmgeschichte kennt viele Varianten dieses Berichtes, welches eben episch ist. Die Montage ist vielleicht die bekannteste. Aber auch die als Lauftext verfasste Exposition der frühen Star Wars Filme erspart uns Zuschauern eine Menge schlecht gemachter Expositionsszenen.

Das also sind die Kriterien, nach denen ich mich in meinem Roman zwischen Szene und Bericht entscheide. Ich habe die Hoffnung, dass meine Überlegungen auch für das Verfassen von Drehbüchern hilfreich sind.

Virtual Reality Teil 6: Sonstige Erfahrungen

Ich benutze VR übrigens am meisten zum Meditieren. Die virtuellen Welten, in welche ich da eintauche, helfen mir, mein Alltagsbewusstsein in den Hintergrund meiner Aufmerksamkeit zu schieben. Da mein Atem visualisiert wird, ist dies eine große Hilfe, mich darauf zu fokussieren. Ich habe den Eindruck, dass meine seelische Gesundheit enorm davon profitiert. Die Sitzungen sind auch kurz genug – übergroße Anstrengung hier also kein Thema.

Kinofilme, Serien oder YouTube Beiträge in der VR anzusehen, schafft ein Äquivalent zum Kinoerlebnis. Ich sitze nicht in der Handlung, sondern im Kino. Es gibt eine APP, in der ich mein Kinoerlebnis mit anderen teilen und sogar mit deren Avataren interagieren kann. Die etwas geringere Auflösung meines billigen Headsets stört mich dabei persönlich kaum, weil ich an das Kino meiner Kindheit und Jugend erinnert werde. Serien sind besonders dann reizvoll, wenn sie gedreht wurden wie fürs Kino. Es gibt allerdings auch Serien (und YouTube Beiträge), die auf einem kleineren Panel besser wirken – bei denen das Kinoerlebnis also abträglich ist.
Wenn es meine Leser interessiert, werde ich analysieren, woran das liegen mag.

Die meiste Erfahrung mit VR existiert logischerweise im Bereich der Simulationen und der Spiele. Das Gefühl „real“ anwesend zu sein, wird hier dramaturgisch am besten berücksichtigt.

Um einen kleinen Eindruck zu vermitteln, wie real Erlebnisse in der VR werden können, möchte ich ein Erlebnis schildern:
Ich nehme inzwischen regelmäßig an Gruppenmeditationen in der VR teil. Wir sitzen in einer Art östlichen Tempel auf Kissen, alle Teilnehmer werden durch comichafte Avatare repräsentiert, die Stimmen der Sprecher sind genau im Raum verortbar. Trotz des fantasievollen und durchaus unrealistischen Settings fühlt es sich an, als wäre man gemeinsam mit richtigen Menschen in einem wirklichen Raum. Auch die graphische Stilisierung ist dem nicht abträglich. Da wir am Ende auch unsere Gedanken und Gefühle miteinander teilen, entsteht nicht selten die Intensität einer realen Gruppentherapie. Es spielt keine Rolle, dass ich dabei auf einer Couch in einer deutschen Kleinstadt sitze und die anderen in ihren Wohnungen irgendwo in den Vereinigten Staaten. Für die Dauer der Veranstaltung sind wir tatsächlich in diesem östlichen Tempel – miteinander.

Das also beendet zunächst meine Schilderungen und dramaturgischen Überlegungen zum Thema VR. Vielleicht werde ich irgendwann wieder etwas dazu schreiben. Inzwischen jedoch finde ich Filmdramaturgie interessanter.

Virtual Reality Teil 5: Dramaturgie der VR an einem Beispiel untersucht

Im vergangenen Beitrag hatte ich das VR-Erlebnis mit dem des polnischen Theaterregisseurs TADEUSZ KANTOR verglichen, der zwischen seinen Schauspielern herumläuft. Diesen Vergleich habe ich aus einem gewissen dramatischen Bedürfnis gewählt, weil ich den Kontrast überspitzen wollte. Er trifft bestenfalls für VR-Spiele zu, in denen ich mich frei bewegen kann und mit den Figuren interagiere. In der VR-Serie THE FACELESS LADY, die ich hier beschreiben möchte, waren meine Standpunkte immer festgelegt – die Figuren haben mich auch dann nicht gesehen, wenn ich direkt vor ihnen stand. Es war sozusagen eine 4. Wand inmitten der Immersion, was eine befremdliche Wirkung auf mich hatte.

Über weite Strecken konnte ich also eine konventionelle Filmdramaturgie mitverfolgen, welche der VR gar nicht bedurft hätte und durch sie sogar gestört wurde. Zwei Dinge waren für mich vor allem im Piloten besonders auffällig.
Zuweilen ging die Kamera so nah an die Protagonistin heran, dass ich das Gefühl hatte, sie körperlich zu berühren. Das war mir auch beim wiederholten Ansehen sehr unangenehm. Zudem schien es absurd, von der Schauspielerin nicht bemerkt zu werden. Sah die Kamera hingegen über die Schulter eines Menschen, hatte ich immer das Bedürfnis, den Störenfried, der unmittelbar vor mir im Sichtfeld stand, beiseite zu schieben. In einem anderen Film, der einen Tag mit einer idealen Freundin beschreiben sollte, blickte die Protagonistin wenigstens in die Kamera, so dass die Nähe nicht störend, sondern angemessen wirkte. Interessanterweise kam sie mir trotzdem nicht so nahe, wie die Hauptfigur der ersten Episode von THE FACELESS LADY. Offensichtlich sind hier für die Filmemacher noch einige Lektionen zu lernen, wenn VR im filmischen Bereich das nächste große Ding werden soll.
Das Zweite, was mich störte, waren extreme Wechsel des Kamerawinkels. Immerhin wurde ich mit jedem Schnitt willkürlich durch den Raum bewegt. In einem gewissen Maß war dies durchaus tolerierbar und vereinbarte sich mit meinen filmischen Sehgewohnheiten. Wurde ich aber mitten in einem interessanten Gespräch plötzlich an die Decke geklebt, um mir die Szene von schräg oben zu betrachten, hätte ich gern dagegen protestiert. Es sollte bei der Planung der Einstellungen unbedingt auf solche Effekte geachtet werden. Am ehesten konnte ich Situationen tolerieren in denen ich mich – wie der polnische Theaterregisseur – auf Augenhöhe mit den Schauspielern befand. In der VR bin ich eben kein Voyeur, sondern „real“ anwesend.

Diese „reale“ Anwesenheit ist für mich der große Unterschied zu allen anderen Medien, in denen mir fiktionaler Inhalt angeboten wird. Es gab für mich im Piloten sogar einen Moment, in dem sich das ausgezahlt hat. Nein – ich wurde nicht direkt angesprochen! Aber an einer Stelle hörte ich einen wichtigen Dialog von der Seite. Nicht die Kamera führte mich dahin, sondern der Ton, so dass ich mich zur Seite drehte, um die Sprecher zu beobachten. Ich musste selbst aktiv werden, um meine Aufmerksamkeit in die gewünschte Richtung zu lenken. Das gab mir ein (täuschendes) Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung, denn natürlich war die Szene so gebaut, dass ich mich der Kopfdrehung nur mit großer Konzentration hätte verweigern können.

Ich denke, wer VR Filme drehen will, sollte schon in der Vorbereitung die „reale“ Anwesenheit des Zuschauers in der Szene berücksichtigen. Einfach nur etwas immersiveres 3D zu schaffen, aber filmisch so zu erzählen wie bisher, wird vermutlich wenig Zukunft haben. VR ist – so wie ich es bisher erlebe – ein ganz besonderes Medium, welches eine neue Art von Storytelling erfordert.

Virtual Reality 4: Dramaturgie in neuen Filmen

Dramaturgie kann verschiedene Aufgabenfelder annehmen. Sie kann Zusammenhänge zwischen der Textgestalt einer Vorlage und einer idealen Aufführung beziehungsweise Verfilmung sichtbar machen, so aufzeigend, wo Text geändert oder gestrichen werden sollte, um die Absicht der Umsetzung zu unterstützen. Dramaturgen können den Produktionsprozess begleiten und den Regisseur mit Feedback bei der Umsetzung inspirieren.

Bei Allem was Dramaturgen dazu beherrschen sollten, ist ein Gefühl für das Storytelling unabdingbar, selbst wenn das Team glaubt, keine Geschichte erzählen zu wollen. Geschichten oder Stories müssen nicht zwangsläufig ein linearer Ablauf von Ereignissen uns Handlungen sein. Eine gut gestaltete Hypnose, eine geführte Meditation beispielsweise haben einen inneren Spannungsbogen, welcher den Rezipienten bei der Stange hält, auch wenn nicht unbedingt eine „Fabel“ über diese inneren Erlebnisse verbalisiert werden kann. Ähnliches gilt auch für Musik. Selbst ein Bild, welches wir uns betrachten, fesselt unsere Aufmerksamkeit länger, wenn es unseren Blick in spannungsvoller Weise führt.

Hat etwas eine „gute Dramaturgie“, dann heißt das, dass unsere Aufmerksamkeit auf einem Zeitstrahl in einer Weise gelenkt wird, die Spannung und Neugierde erhält – das schließt retardierende Momente zum Durchatmen und sich sammeln mit ein. Die Mittel, mit welchen wir erzählen, also die Aufmerksamkeit des Rezipienten führen, sind dabei von entscheidender Bedeutung. Sind es auditive, visuelle oder verbale Mittel? Wird gelesen, geschaut, angehört oder gar in Echtzeit mitverfolgt? Ist es Theater oder Film?

Das schönste Beispiel für die Lenkung der Aufmerksamkeit des Publikums und dessen Täuschung im Theater habe ich immer in Schillers WILHELM TELL gefunden. Der berühmte Apfelschuss wird dramatisch vorbereitet. Die Zuschauer sind neugierig, wie die Inszenierung das gefährliche Manöver lösen wird. Im Bergtheater Thale haben wir immer bemerkt, wie die Zuschauer voller Erwartung ihre Kameras zückten. Die Vorstellung fand bei Tageslicht statt, keine der üblichen Bühnentricks schienen vorbereitet zu sein. Alles war gut sichtbar, keine Beleuchtung konnte irgendeine Schummelei verbergen. Auf der Spitze der Erwartung gewinnt plötzlich eine Nebenhandlung Gewicht. Ein junger Edelmann ergreift unerwartet Partei für Tell, der Konflikt eskaliert, so dass es beinahe zum Duell kommt. Während nun die Zuschauer gespannt dieser Nebenhandlung folgen, hören sie plötzlich den Aufschrei, dass Tell erfolgreich geschossen hat. Wie bei einem Zaubertrick konnte Tells Sohn im Schatten der Ablenkung unauffällig den Apfel vom Kopf nehmen und ihn durch einen ersetzen, der mit einem Pfeil durchbohrt war. In Thale fielen die Zuschauer jedes Mal darauf rein. Nach einem kurzen Moment der Überraschung lachten und applaudierten sie. Dieser Trick war durch die Textgestalt des Dramas ermöglicht worden und bedurfte nur noch des geschickten Arrangements der Figuren.

Der Film benötigt diese Art der Zauberei nicht, weil ihm andere Mittel zur Verfügung stehen. Die Entwicklung der Technik hat diese enorm erweitert, so dass hier ein Potential zur Illusionierung entsteht, welches es bisher nicht gegeben hat. Der Film ist sogar noch einen Schritt weitergegangen und hat immer wieder (seit den späten 1960gern) mit 3D experimentiert. Vor einigen Jahren gab es einen kommerziellen Höhepunkt dieser Technologie. Viele Filme waren da zu sehen – ja selbst 3D-fähige Fernsehgeräte erschienen im Handel. Der Hype ist inzwischen deutlich abgeflaut. Persönlich sehe ich die Ursache darin, dass die Augen durch 3D ungleich mehr angestrengt werden und es keine visuelle Erzählkunst gab, welche zwingend 3D erfordert hätte. Die Filme mussten ja auch in 2D funktionieren, so dass räumliche Tiefe durch geringe Tiefenschärfe im Bild vermittelt wurde – eine Konvention, die für 3D komplett überflüssig ist. Von einigen Effekten einmal abgesehen, gab es keinen erzählerischen Vorteil. In dem Moment, als der Reiz des Neuen vorbei war, fanden sich offenbar zu wenige Zuschauer, die bereit waren, den Preis erhöhter Anstrengung zu entrichten, wo kaum Gewinne in punkto Immersion zu erzielen waren.

VR könnte hier einen Schritt weiter gehen, wenn man sich zutraut, einige Experimente zu wagen und auf das Feedback von Zuschauern hört. Im Theater, im Film (selbst im 3D) bin ich als Zuschauer eher Betrachter aus der Distanz. Auch wenn die berühmte 4. Wand in diesen Medien durchbrochen werden kann, sein durch direkte Ansprache im Theater oder indem Gegenstände im 3D Kino ins Publikum geworfen werden, betrachte ich das Geschehen immer mit einem gewissen Abstand. Die Handlung wird sich jedes Mal vor mir entfalten – die Dramaturgie wird diesen Umstand immer berücksichtigen müssen.

Die VR versetzt mich wirklich und wahrhaftig in das Geschehen. Dieses tatsächliche Realitätserlebnis ist bereits untersucht worden und stellt sich selbst in comicartigen, hoch stilisierten Umgebungen ein. Da moderne Headsets einen räumlichen Klang erzeugen können, ist die Immersion nahezu perfekt. Das Erlebnis, sich einen Film anzusehen, der extra für VR gedreht wurde, unterscheidet sich prinzipiell von dem, was ich in Theater, Kino oder Film erfahren habe. Ich würde es mit dem vergleichen, was der polnische Regisseur KANTOR gehabt haben mag, als er während der Vorstellungen zwischen seinen Schauspielern herumlief. Die Frage ist nur: wie leitet man unter diesen Umständen die Aufmerksamkeit des Publikums, um Spannungsbögen zu schaffen?

Im nächsten Eintrag werde ich über meine Erfahrungen reflektieren, die ich beim Ansehen einer VR-Serie machen durfte und so der Frage etwas näher kommen.