Neue Technologien haben die Unart, gesellschaftliche Veränderungen zu provozieren, die keiner erwartet hat. Wir kennen die Auswirkungen des Buchdrucks, der Mechanisierung oder der Massenproduktion. Im Augenblick sehen wir uns mit der Digitalisierung konfrontiert, deren Konsequenzen wir unmöglich prophezeien können. Was allerdings zu leisten ist, ist eine Beschreibung der Veränderungen, welche bereits stattgefunden haben.
Als Neil Postman uns davor warnte, uns zu Tode zu amüsieren, hatte Apple gerade den MAC vorgestellt, der als Blaupause moderner PC’s angesehen werden kann. Zu diesem Zeitpunkt war eine solche Entwicklung noch marginal, so dass das Fernsehen als Hauptfeind angesehen wurde. „Fernsehen wurde nicht für Idioten erschaffen – es erzeugt sie.“ Im Mittelalter benutzte man den Begriff idiotae, um die ungebildete, unwissende Mehrheit der Bevölkerung zu kategorisieren, die weder lesen noch schreiben konnte. Die Wissenschaft nennt diese Menschen auch „illiterat“, weil sie am gesellschaftlichen Diskurs nicht über die Schriftsprache teilnahm. Die idiotae standen als Gruppe im Gegensatz zu den docti, den Gelehrten, den Schriftkundigen, den Literaten.
Die fortschreitende Digitalisierung hat die vom Fernsehen begonnene Entwicklung zu einem neuen Höhepunkt getrieben. Sie hat eine neue Schicht von idiotae erschaffen, welche illiterat sind, obwohl sie lesen und schreiben können. Illiterat bedeutet in diesem Fall, dass sie sich nicht vom geschriebenen Wort inspirieren lassen, sondern Informationen und Gedanken aus Dokumentationen, gesprochenen Kommentaren, Memes, Tweets und ähnlichem ziehen. Die docti unserer Zeit können nicht nur lesen und schreiben, sondern benutzen diese Fähigkeiten auch, um am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen.
Äußerte ich diese Gedanken in einer Diskussion, würden mich Menschen fragen: „Was ist daran so schlimm? Warum muss man denn Bücher lesen?“
Niemand muss! Aber im Unterschied zu anderen Formen des Austausches bestimmt das Lesen nicht das Tempo der Rezeption. Ich lese in meinem eigenen Tempo, in der Geschwindigkeit also, in der ich dem Text folgen kann. Jederzeit habe ich die Möglichkeit, vom Buch aufzuschauen, zu assoziieren, über das Gelesene nachzudenken. Das erhöht meine Fähigkeit, auch komplexeren Texten zu folgen. Zu einem beliebigen Moment setze ich meine Lektüre fort. Nehme ich dasselbe audiovisuell wahr, muss ich dem Tempo der Darbietung folgen. Diese ist in der Regel auch so organisiert, dass ich möglichst nicht das Bedürfnis nach einer Pause verspüre. Der Unterschied in der Art der Rezeption ist wesentlich! Beim Lesen kann ich komplexere Gedanken verstehen und habe es auch leichter, zum Text meine eigene Meinung zu bilden. Das Lesen, so möchte ich behaupten, bildet mich tiefer und komplexer, weil es mir ein besseres Verständnis und kritisches Denken ermöglicht. In meinem eigenen Tempo der Rezeption komme ich einfach besser „dazwischen“ – muss ich dem Dargebotenen in Echtzeit folgen, bin ich ihm deutlich stärker ausgeliefert. Auch das in Echtzeit Dargebotene muss seine Struktur so vereinfachen, dass der Zuschauer in Echtzeit folgen kann. Für Regisseure und Dramaturgen ist dies übrigens eine große Herausforderung beim Inszenieren anspruchsvoller Stücke.
Dass sich der Medienkonsum vom überwiegend Literarischen zum überwiegend Audiovisuellen verschoben hat, erinnert mich an einen Satz, welcher für mich einen wesentlichen Faktor mittelalterlicher Kultur beschreibt: Pictura est laicorum literatura – „Das Bild ist die Literatur der Laien.“ Die Abwendung vom Literarischen hat eine wachsende Subkultur illiterater Menschen geschaffen, die zwar lesen und schreiben können – ihre Bildung aber nicht aus Schriften beziehen. Durch die Eigenart der Rezeption in Echtzeit verlieren sie gewissermaßen die Kontrolle über ihr eigenes Denken. Ihr Gehirn wird nicht mehr auf kritisches Hinterfragen oder das Verstehen komplexer Zusammenhänge trainiert, denn dazu braucht es die Muße und Selbstbestimmung des Lesers. Das Medium ist ein großer Teil der Botschaft.
Auch im Mittelalter standen die Geistlichen als Vertreter der Herrschenden vor dem Problem, ihrer illiteraten Zuhörerschaft die herrschenden christlichen Ideen zu vermitteln. Dabei haben sie nicht die Ideen eines Thomas von Aquino diskutieren können, dessen Gedanken auch dann zu komplex gewesen wären, wenn man sie in die jeweilige Volkssprache übersetzt hätte. Dem Volke mussten einfache Botschaften, Geschichten und Bilder geboten werden – Dinge, welche auch ungebildete Menschen begreifen konnten.
„Etwa 17 Millionen Erwachsene in Deutschland haben Probleme damit, komplexe Texte zu verstehen. Damit auch sie sich über aktuelle Themen informieren können, strahlt die tagesschau ab sofort Fernsehnachrichten in Einfacher Sprache aus.“ So lesen wir es auf der offiziellen Webseite (Stand 12.06.2024). Wer diese Beispiele Einfacher Sprache hört, wird auch dann erschüttert sein, wenn er kein Akademiker ist. Es werden primitive Aussagen vorgestellt, die keinen Hinweis auf Zusammenhänge enthalten und so keine Hilfe zum Verständnis aktueller Geschehnisse geben können. Ich glaube, dass die Geschichten, welche im Mittelalter den idiotae erzählt wurden, die Bilder, die man ihnen präsentierte, anspruchsvoller waren als die Einfache Sprache.
Ein Jahr lang habe ich an einer Brandenburgischen Oberschule unterrichtet. Der größte Teil meiner Schüler hatte eine profunde Abneigung gegen Lesen und Schreiben. Selbst ein kurzer Abschnitt in einem Lehrbuch, das für ihre Altersklasse geschrieben worden war, selbst die Inhalte des Rahmenlehrplans stellten eine wesentliche Überforderung für den größten Teil dieser Schüler dar. Was ich von der Digitalisierung im Lehrbetrieb soweit gesehen habe, ist eher geeignet, dem Primitivismus Vorschub zu leisten und die illiterate Konditionierung fortzusetzen. Man könnte überspitzt formulieren, dass die Gruppe der idiotae täglich Zuwachs bekommt und die docti sich nicht mit der Hebung der allgemeinen Bildung befassen, sondern damit, den idiotae intellektuell entgegenzukommen und so ihre Chancen auf Verständnis und kritisches Denken zu minimieren.
Dies, liebe Leser, ist eine kulturelle Entwicklung, die mich sehr an das Mittelalter erinnert.