Ideologie lässt sich ohne größere geistige Anstrengung erkennen, was sie für Meinungsregulatoren jeglicher Couleur besonders attraktiv erscheinen lässt. Es geht in ihr um Sagbares und Nicht-Sagbares. Kultur ist da schon deutlich komplexer, denn in ihr geht es weniger um Worte als um Verhaltensweisen. Ob wir einer Frau die Tür aufhalten oder nicht, ob wir sie nötigen, sich züchtig zu kleiden oder ihre Freizügigkeit respektieren, ob wir mit Besteck oder mit den Händen essen, welches Besteck wir wählen, ob wir Trinksitten haben oder nicht, wie wir zu Recht und Gerechtigkeit stehen, ob wir lieber verzeihen oder rächen – dies alles sind Elemente einer Kultur, die auf mannigfaltige Weise verknüpft sind. Im Unterschied zu ideologischen Positionen lässt sich ein kulturelles Fundament auf Nachfrage nicht mit wenigen klaren Sätzen beschreiben.
Unsere Kunst steht mit der Kultur in lebhaftester Beziehung. Eines ihrer wichtigsten Instrumente ist der Umgang mit Mythen. Mythos ist das, was wir in den Schriften des Aristoteles häufig als Fabel übersetzt finden und heute vielleicht eher als Story oder Plot bezeichnen würden. Das Wort Mythos ist mir aber näher, weil es die sinnstiftende Eigenart von Geschichten besser zum Ausdruck bringt. Wenn Aristoteles den Mythos als „Verknüpfung von Begebenheiten“ definiert, können wir unterstellen, dass die Begebenheiten erst durch ihre Verknüpfung einen Sinn bekommen. Insofern gibt es Geschichten, welche wir als eine Art Gründungsmythen bestimmter kultureller Elemente betrachten können. So sind die Evangelien Geschichten, die uns zu christlichen Werten und christlichem Verhalten führen – so ist die Legende vom Müller von Sanssouci als eine Art Beginn unseres modernen Verständnisses vom Rechtsstaat zu werten. Und genauso, wie die Kunst Mythen schafft oder bestätigt, kann sie diese auch dekonstruieren oder gar vernichten. Beinahe wichtiger als die Beschreibung verhandelter Gedanken scheint mir daher in den Werken der dramatischen Kunst die Betrachtung des erzählten Mythos, der Handlung also, zu sein.
Die ideologischen Auseinandersetzungen, welche in DANIEL DRUSKAT geführt werden, waren für die damalige Zeit sicher an der Grenze des noch Erlaubten. Auch die ziemlich durchsichtige Erkenntnis, dass man mehr Erfolg hat, wenn man sich nicht an die Regeln sozialistischen Wirtschaftens hält, mag dem einen oder anderen Genossen bitter aufgestoßen sein. Doch möchte ich vom Mythos reden, von dem, was den Ereignissen einen tieferen Sinn verleiht.
Die Freundschaft zwischen Stephan und Druskat hat nur Bestand, weil Stephan immer wieder die menschliche Hand ausstreckt, welche Druskat aus ideologischen Gründen oft genug zurückweist. Auch wenn Druskat zur Zeit der Kollektivierung Hemmungen hat, den Freund öffentlich zu demütigen, beugt er sich am Ende dem Willen der Partei. Das abstrakte Wohl aller scheint ihm in seinen Entscheidungen immer wichtiger als das Wohlergehen derjenigen Menschen, die ihm nahestehen.
Der Mythos bringt diese Merkwürdigkeit in einen sinnerfüllten Zusammenhang. Druskat schindet sich und opfert alles, weil er meint, für eine Schuld büßen zu müssen. Wir finden hier ein durchaus christliches Konzept, welches die Handlung des gesamten Fernsehromanes zusammenhält (verknüpft). Durchaus nachvollziehbar, dass ihm seine realen Freundschaften weniger bedeuten. Am Ende ist die Buße offenbar abgeschlossen. Er hat für das Dorf alles erreicht was er wollte, sich selbst angezeigt und gestanden. Seinen Posten wird er verlieren und aus der Partei ausgeschlossen werden. Er wirkt befreit und entspannt. In der Perspektive ist es schwer vorstellbar, dass er sich auch in Zukunft so fanatisch für die Belange des Sozialismus einsetzen wird. Der etwas angeschlagene Max Stephan ist immer noch treu an der Seite des Freundes – wir können uns durchaus vorstellen, dass er wieder auf die Beine kommt und sich auch in Zukunft mit allerlei Regelverstößen über Wasser halten wird.
Der Mythos berichtet vom schuldhaften Grundmotiv der kommunistischen Überzeugung des Protagonisten und davon, dass er nach geleisteter Buße die Chance bekommt, vom Funktionär zum Menschen zu werden. Ob die Tragweite einer solchen Geschichte ihren Schöpfern bewusst gewesen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Den staatlichen Zensoren wird sie mit Sicherheit entgangen sein, denn der Mythos wird nicht explizit im Dialog als Idee formuliert. Und doch wirkt er stärker als jedes Lippenbekenntnis.