Im zweiten Teil meiner Schrift über Schauspielpädagogik hatte ich die Begriffe idealer Schauspieler, intendierter Schauspieler und real existierender Schauspieler eingeführt. Sie mögen auf den ersten Blick nur für Schauspielpädagogik und Schauspielmethodik relevant sein, verdienen aber auch aus dramaturgischer Sicht einige Aufmerksamkeit.
Sehe ich den dramatischen Text als eine Blaupause für spätere Aufführungen an, so müssen Schauspieler in diesen eine zentrale Bedeutung haben – verwandeln sie doch geschriebene Rollen in Figuren. Jeder Mensch, der einen dramatischen Text schreibt, hat nicht nur eine ideale Aufführung im Kopf, sondern selbstverständlich auch ideale Schauspieler, welche in dieser Aufführung agieren.
Es hab verschiedene Zeitalter, in denen Stücke zusammen mit den Schauspieltruppen entwickelt worden – der Dichter also von der Mitautorenschaft seiner spielenden Kollegen profitieren konnte. Für die Texte von Shakespeare besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass sie wenigstens teilweise kollektive Schöpfungen gewesen sind. Nicht zuletzt der beispiellose Wortschatz spricht dafür. Auch viele der Dialoge Molières enthalten Spuren von Improvisationen. Zuerst fiel mir ein solcher Zusammenhang auf, als ich das Textbuch zu einer Inszenierung von Frank Castorf in die Hände bekam. Dieser Regisseur ist bekannt für seine Eigenart, während der Proben die Erfindung neuer Dialoge durch die Schauspieler zu fordern. Als ich zum ersten Mal die Niederschrift einer solchen Arbeit zu lesen bekam, sprang mich die strukturelle Ähnlichkeit zu den Dialogen Molières an. In solchen Produktionsweisen haben sich offenbar die Eigenheiten der real existierenden Schauspieler als ideale Schauspieler in den Text eingebacken.
Vermutlich ähnlich verhält es sich mit Drehbüchern, welche von den Autoren selbst inszeniert werden. Sei es Fassbinder oder der bereits besprochene DANIEL DRUSKAT – die Textgestalt weist klare Bezüge zum Stil des Schauspiels auf. Dies scheint ebenfalls für ältere Filme oder viele amerikanische oder englische Produktionen zuzutreffen, in denen der Eindruck einer Kongruenz von idealem und real existierendem Schauspieler zu bestehen scheint. Offensichtlich hatten die Autoren der Drehbücher diejenige Schauspielkunst im Kopf, die es real gab (oder gibt).
Umso erstaunlicher sind Gespräche, die ich mit einigen deutschen Filmemachern hatte. Diese beschweren sich nicht selten über die real existierende Schauspielkunst in Deutschland. Die Figuren wären hölzern, die Kollegen würden nicht wie Menschen sondern wie Schauspieler sprechen. Offenbar haben die idealen Schauspieler der Autoren nichts mit der Schauspielkunst zu tun, die es tatsächlich in unserem schönen Lande gibt. Da sich auch Regisseure und Produzenten beschweren, ziehen diese sich aus den Büchern offenbar auch eine andere Art der Schauspielerei als die real existierende. Da sich der genannte Personenkreis zwischen dem Autor und dem Schauspieler befindet, nenne ich seine Vorstellung den intendierten Schauspieler. Hier ist es wie im Theater möglich, dass sie die idealen Schauspieler der Autoren nicht gut entschlüsseln können und so die real existierenden vor große Schwierigkeiten stellen.
Öfter aber kommt es vor, dass die Bücher dramaturgisch inkonsistent sind oder die Dialoge unlebendig formuliert wurden. Den Schauspielern wird es so erschwert, ihr künstlerisches Gewissen für die Erarbeitung einer lebendigen Figur zu nutzen. Nicht zu vergessen ist auch die, vom anglophonen Raum sehr verschiedene, Art der stimmlichen und sprecherischen Ausbildung. Ich habe dies ausführlich im dritten Band meiner Schrift zur Schauspielpädagogik beschrieben. Da es ein überwiegend schauspielerisches Problem ist, werde ich es in einem dramaturgischen Text nicht weiter erörtern, obwohl es sicher auch einen Teil der Frustration deutscher Filmemacher mit verursacht.
Was in Deutschland aber besonders fehlt, ist die Muße. Vielleicht wären die Autoren offener für dramaturgische Verbesserungen, wenn sie mehr Zeit hätten. Erfahrungsgemäß spielen auch Schauspieler besser, wenn sie mehr Zeit in die Vorbereitung investieren. Und hier haben wir kein dramaturgisches sondern ein ökonomisches Problem unserer real existierenden Film- und Theaterkunst.