Müssen wir in Film- und Serienproduktionen das Können der Autoren berücksichtigen, wenn es um die Wechselwirkung von Texten und Schauspielkunst geht, bleibt uns diese Mühe im Theater erspart, wenn wir uns an sogenannte „gute Stücke“ halten, an Texte also, deren Qualität die Prüfungen der Zeit bestanden hat.
Dabei zu glauben, dass hierbei ideale, intendierte und real existierende Schauspieler eine reibungslose Einheit bilden würden, ist eine sehr gefährliche Täuschung.
Wie bereits in den Beiträgen über Helenas Monolog beschrieben, hat jede Theaterepoche eine ihr eigene Schauspielkunst vorzuweisen, die durchaus verschiedene Stile beinhalten kann. Unter Berücksichtigung globaler Wahrnehmungen wäre es wahrscheinlich gescheiter, von Theaterkulturen mit jeweils besonderer Schauspielkunst zu sprechen. So ist das, was wir im Abendland als Norm für gutes Schauspiel ansehen, im kulturellen Sinn an eine Zeit und an einen Ort gebunden. Wir können keinesfalls stillschweigend voraussetzen, dass Sophokles oder Shakespeare an unsere bürgerliche Menschendarstellung gedacht haben, als sie die Texte ihrer Stücke niederschrieben.
Wie „realistisch“ in unserem Sinn konnten Shakespeares Mimen wirklich agieren? Wir wissen aus den Stücken, dass die Dekoration verbal durch die Figuren beschrieben werden musste, weil sie auf der kargen Bühne nicht aufgebaut war. Wir finden ebenso die gesprochenen inneren Regungen. Figuren, die über sich sprechen, suchen oft Metaphern für ihr eigenes Leid. Es wird, zumindest in Worten, nicht direkt zum Ausdruck gebracht. Gefühle entzünden sich vielmehr an Schicksalen, die dem eigenen ähneln. Eigenes Leid wächst über das Individuelle hinaus und bekommt so die Größe eines Welterlebens. Die Figuren allerdings können sich in dieser Verallgemeinerung vom unmittelbaren Erleben distanzieren – sie müssen es sogar, um einer solchen Poesie fähig zu sein. Ab und an kommt es auch vor, dass die äußeren Anzeichen innerer Bewegung vom szenischen Partner ausgesprochen werden. Es scheint mir nicht zu kühn anzunehmen, dass solche Anzeichen in der Aufführung ebenso wenig vorhanden waren wie die Dekoration, dass also die unmittelbare Darstellung innerer Regungen wahrscheinlich nicht zum Repertoire elisabethanischer Schauspieler gehörte. Das passt zu Vielen, was man über das Theater an der Schwelle zum Barock weiß. Die Schauspielkunst dieser Zeit hat sich sehr von dem unterschieden, was wir als wahrhaftig betrachten.
Wollen wir Shakespeares Stücke so spielen, als wären sie für die realistische Menschendarstellung geschrieben worden, können wir – rein psychologisch – auf einige kreative Herausforderungen stoßen. Die Texte suggerieren in ihrer unveränderten Form eine recht gemäßigte Emotionalität – Man vergleiche sie einmal mit den Dialogen des STURM UND DRANG. So komplexe Gedanken und Vergleiche lassen sich nicht entwickeln und aussprechen, während man von Affekten gepeitscht wird. Versucht man es trotzdem, wirken die Affekte erzwungen oder der Text geistig nicht durchdrungen – also unverständlich. Wir wissen, dass wir uns weniger gewählt ausdrücken, je stärker wir erregt sind. In Hamlets Rede an die Schauspieler finden wir unter anderem die Aufforderung: „Nor do not saw the air too much with your hand, thus, but use all gently, for in the very torrent, tempest, and, as I may say, whirlwind of your passion, you must acquire and beget a temperance that may give it smoothness.“
Sollte Hamlets Hecuba-Monolog allerdings eine authentische Beschreibung damaliger Schauspielkunst sein, so zeigten die Schauspieler dieser Zeit ihre innere Bewegung durch Mimik, Tränen in den Augen und eine brüchige Stimme. Dies scheint meine Behauptungen zu widerlegen – der betreffende Schauspieler aber spricht vom Leid anderer Menschen und liefert einen Botenbericht ab.
„What’s Hecuba to him, or he to [Hecuba],
That he should weep for her? What would he do
Had he the motive and [the cue] for passion
That I have?“
Hamlet mag ja glauben, dass der Mime die Bühne an seiner statt mit Tränen ertränken würde, stellt aber fest, dass ihm, dem Betroffenen, eine solche dramatische Erregung fehlt. Es scheint so, dass es zu Shakespeares Zeiten einfacher war, über das Leid anderer mit seelischer Bewegung und gut formuliert zu sprechen – aber immer noch ist es so, dass man sich besser auf Dinge emotional einlassen kann, die einen selbst nicht betreffen. Vielleicht ist es ein genialer Kunstgriff Shakespeares, dass er Figuren dadurch emotional involviert, dass sie über das Leid anderer sprechen. Als Hermia und Lysander im SOMMERNACHTSTRAUM das Urteil des Herzogs erfahren, beginnen sie sofort, Beispiele unglücklicher Liebe zu suchen und stellen im Mitleid mit diesen ihre eigene Betroffenheit dar. Im Prinzip reden auch sie über Hecuba. Dieser Weg zur Emotionalität der Figuren, der zudem unmittelbar an die Musikalität der Verssprache gekoppelt ist, ist vom Weg Stanislawskis und all seiner Nachfolger wesentlich verschieden.
Kurz erwähnen möchte ich die Wirkung der Travestie. Wie allgemein bekannt sein dürfte, war es Frauen zu Shakespeares Zeiten verboten, Theater zu spielen. Frauenrollen wurden also von männlichen Schauspielern dargeboten. Wie das ausgesehen haben mag, stelle ich mir anhand von Dragqueens vor, welche in ihren Shows einige Aspekte weiblichen Verhaltens überspitzt darstellen. Ich weiß ja nicht, wie es meinen Lesern geht, aber auf mich wirken solche Shows einigermaßen satirisch und nicht auf eine realistische Erforschung des Innenlebens von Frauen ausgerichtet. Aber irgendwie stelle ich mir vor, dass die Lady Macbeth weniger dämonisch wirkt, wenn sie von einem Mann in Frauenkleidern gespielt wird. Ich muss jedoch zugeben, dass wir auf der Welt Theatertraditionen haben, in denen ernsthafte Frauenrollen von Männern gespielt werden, ohne dass diese wie eine Dragqueen wirken. Die traditionelle Pekingoper mag dafür als gutes Beispiels gelten. Weil aber die Darstellungsweise bei allen Rollen hochstilisiert ist, fällt für mich die Travestie der Frauenrollen gar nicht so sehr aus dem Rahmen. Wenn die elisabethanische Schauspielkunst ähnlich hoch stilisiert war, wird die Lady Macbeth vermutlich nicht als Dragqueen für satirische Effekte gesorgt haben. Über dieses Thema muss ich noch forschen, denn es interessiert mich, ob sich etwas dadurch ändert, dass wir heute Shakespeares Frauenrollen von Frauen spielen lassen.