Dramaturgie und Schauspiel (BABYLON BERLIN 3)

Die Figur der Charlotte Ritter wird von einer Schauspielerin mit einer bezaubernden Ausstrahlung und einer erfrischend natürlichen Sprechweise gespielt. Ich sehe ihr sehr gerne zu, obwohl ich mich für die Geschicke ihrer Figur nicht interessiere. Was könnte diese Frau mit einem anderen Drehbuch leisten!

Über dieses Thema stritt ich mich neulich mit meinem Bruder. Was mir gerade an der Figur der Charlotte fehlte, war ein Bewusstsein für die Epoche und die soziale Schicht, der sie entstammt. Er hielt dagegen, dass man die Epoche optisch sehr gekonnt umgesetzt fände und ihre Herkunft im Milieu der Familie genau geschildert sei. Das sind valide Punkte. In einer Diskussion müsste man feststellen, dass alle Voraussetzungen einer interessanten Figur geschaffen worden sind. Warum aber sehe ich die Charlotte Ritter als eine moderne, etwas leichtsinnige und ambitionierte Frau und nicht als ein Kind ihrer Zeit und ihrer Herkunft? Sicher braucht sie Geld, weil sie arm ist. Jeder heutige Student ohne reiche Eltern würde dies verstehen. Und jeder in dieser Gruppe könnte den Konflikt nachvollziehen, wenn sich die Notwendigkeit Geld zu verdienen (Existenzsicherung) und das Studium (Ambition) so in die Quere kämen, dass eine Entscheidung nötig wird. In diesem Konfliktfeld bewegt sich auch Charlotte Ritter, wenn sich sich zwischen ihrer Arbeit für die Polizei (Ambition) und der Prostitution (Existenzsicherung) entscheiden müsste. Ihre Situation wirkt harmloser und damit auch moderner als es ein Bezug zu Epoche und sozialer Herkunft ermöglichen würde. Besteht die Gefahr, dass sie verhungert, wenn sie nur das Geld aus der Polizeiarbeit zur Verfügung hätte? Braucht sie das Geld aus der Prostitution, um ihrer kleinen Schwester das Schicksal als Prostituierte zu ersparen? Für sie selbst scheint es gar nicht schlimm zu sein, ja sogar Spaß zu machen. Sie empfiehlt es sogar einer Freundin als eine Möglichkeit, bequem für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Es fehlt im Drehbuch, ähnlich wie in anderen Fällen, an Konsistenz.

Die Epoche der Weimarer Republik war für den großen Teil der Deutschen keine wirklich lustige Zeit. Die Not, welche dort herrschte, widersetzt sich allen Vergleichen mit aktuellen Verhältnissen. Selbst das Wort Inflation hatte seit 1923 einen drastischeren Beigeschmack als wir uns heute vorstellen können. Es gibt eine Menge Umstände, welche Teil des Konfliktumfeldes der Charlotte Ritter hätten werden können, ihre Situation in eine ganz andere Schärfe treibend. Zum Beispiel: die Mutter ist nicht nur krank, sondern leidet zudem an Schmerzen. Ein gescheiter Arzt und gute Medikamente (vor allem Schmerzmittel) kosten Geld, denn in der Familie scheint niemand abhängig beschäftigt, also auch nicht für den Krankheitsfall pflichtversichert zu sein. Charlottes Bestreben nach einer festen Anstellung bei der Polizei könnte neben ihren persönlichen Ambitionen auch mit einer Mitgliedschaft bei einer gesetzlichen Krankenkasse belohnt werden, die unter Umständen Familienmitglieder mit einschloss. Bis zur Erreichung dieser Festanstellung jedoch, sind Zusatzverdienste aus der Prostitution für die medizinische Versorgung der Mutter erforderlich – kommt ihre Nebentätigkeit ans Licht, ist es Essig mit der Festanstellung und der Krankenversicherung. Charlottes Konflikte wären bereits durch einen solchen Umstand existenzieller geworden – auch für das Publikum würde Armut in dieser Zeit durch diese Konkretisierung fassbarer und persönlicher. Und jetzt stellen wir uns die Szene vor, in der sie eine Ampulle des Medikaments von Gereon Rath in der Toilette fallen lässt und geben der Figur den eben beschriebenen Hintergrund. Macht sie ihn darauf aufmerksam, dass jetzt eine Ampulle in der Ritze steckt oder schweigt sie und holt sie später? Da sie lesen kann, wird ihr aufgefallen sein, dass das Medikament Morphium enthält: die Ampulle könnte die Schmerzen der Mutter für eine Weile lindern. Da wir Charlotte das nächste Mal ohnehin bei ihrer Familie (und der kranken Mutter) sehen, wäre dies die Gelegenheit für eine weitere Entscheidung: helfe ich der Mutter schnell oder verpflichte ich mir Rath noch ein wenig mehr (damit er mich in Sachen Festanstellung unterstützt)? Wird sie später von Bruno Wolter erpresst, könnte sie betreffs dieser Ampulle eine weitere Entscheidung spielen. Wie spannend wäre das für den Zuschauer und wie viel könnten wir dabei über die Figur erfahren!

Das verfilmte Drehbuch allerdings belästigt weder uns noch die Schauspieler mit solchen Entscheidungen. Es nimmt so beinahe allen Szenen dramatische Spannung. Und weil wir über Figuren am meisten erfahren, wenn sie sich unter Druck entscheiden müssen, verlieren sie durch die Abwesenheit geschriebener Entscheidungsprozesse gehörig an Tiefe.

Und an dieser Stelle muss ich an meinen alten Schauspielprofessor, den leider schon verstorbenen Peter Förster, denken, der uns immer wieder einbläute, der Schauspieler könne nur Widersprüche spielen – und diese als Kette von Entscheidungen.

Wir sollten in der Tat Schauspielkunst und Dramaturgie in einem engeren Zusammenhang betrachten.

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